Von Ingelore Eberfeld
Der sexuelle Supergau
Im Privatfernsehen stehen Sendungen wie "Let’s talk about sex, baby" um 20:15 auf dem Programm. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es entblößte Brüste frühestens ab 23:00 Uhr zu sehen. Und über Sex gesprochen hat man damals schon gar nicht. Der Kampf für sexuelle Freiheit war erfolgreich – für manche sogar zu erfolgreich. Die Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld, beschreibt nun eine Sexualisierung, die alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. "Der sexuelle Supergau" lautet der Titel ihres Buchs.
8. April 2017, 21:58

VERLAG WESTEND
Kontext, 1.7.2016
Sexualität – das war einmal etwas Intimes, etwas ganz Privates, dass sich im abgedunkelten Schlafzimmer abspielte. Darüber zu sprechen oder
sogar öffentlich darüber zu singen, war Tabu, selbst freizügige Sexszenen im Film sorgten lange Zeit für Skandale. Das ist lange her. Heute gibt es kaum noch sexfreie Zonen in der Öffentlichkeit. Die Rapperin Nicki Minaj macht bei ihrem Auftritt vor Millionenpublikum eindeutig-anzügliche Bewegungen. Beyonce trägt bei der wichtigsten Modeveranstaltung des Jahres ein transparentes Kleid. Sadomaso-Romane für Frauen werden zu Bestsellern. Für diese vermeintlich grenzenlose sexuelle Freiheit zahlen wir einen hohen Preis: Im übersexualisierten Alltag bleiben Scham, Anstand, Sittlichkeit und ein gesundes Selbstwertgefühl auf der Strecke. Dieses ernüchternde und auf den ersten Blick überraschende Fazit zieht die Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. Darauf aufmerksam wurde die renommierte Kulturanthropologin aus Bremen vor knapp drei Jahren, als ein 14jähriges Mädchen von ihr wissen wollte, ob Analverkehr normal sei.
Auf über 400 Seiten inklusive 60 Seiten Anmerkungen beschreibt Ingelore Ebberfeld, mit wie viel Sexualität wir tagtäglich bombardiert werden. An das meiste hat man sich so sehr gewöhnt, dass man die Empörung der Autorin streckenweise übertrieben finden kann. Die Bestandsaufnahme wird anschaulich mit schwarz-weißen Bildern belegt. Obwohl sie so klein sind, zeigen sie deutlich, was passiert, wenn zum Beispiel der mehrfache Grammy-Preisträger Usher bei seinen Auftritten Zuschauerinnen auf die Bühne holt. Ohne irgendwelche Regieanweisungen mimen diese Frauen freiwillig einen wollüstigen Koitus mit ihm und reiben sich an seinem Geschlecht. Spätestens bei der Vorstellung, dass sich die eigene Tochter dort so exhibitionieren würde und alle es für immer im Netz sehen können, versteht man eine Teil der Sorge von Ingelore Ebberfeld.
Service
Ingelore Ebberfeld, "Der sexuelle Supergau. Wo bleiben Lust, Scham und Sittlichkeit?", Westend