Ilse Aichinger gestorben

Nur wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag am 1. November ist die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger verstorben.

Das sagte ihre Tochter Mirjam Eich der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Ilse Aichinger

Ilse Aichinger, Archivaufnahme

ORF/PETER FRÖHLICH

Ilse Aichinger war viele Jahre lang eine wohlbekannte Erscheinung in der Wiener Innenstadt. Man konnte die alte Frau nachmittags oft über den Stephansplatz huschen sehen, mit verlorenem Blick und einer Plastiktüte in der Hand, bisweilen saß sie im Kaffeehaus des Hotels "Imperial", vor sich eine Schale Tee, mit fahrigen Bewegungen in einer Tageszeitung blätternd. Auch als alte Frau wirkte Ilse Aichinger wie ein junges Mädchen, scheu, ängstlich, alles andere als weltgewandt. Eine Aura der Entrücktheit umgab sie.

In Wien, ihrer Geburtsstadt, hatte die ewig Rastlose zuletzt doch wieder so etwas wie eine Heimat gefunden, auch wenn sie in einem früheren Interview bekannt hatte: Ich kann mir eigentlich keinen Ort auf der Welt vorstellen, wo ich sagen würde: Da bin ich wirklich zu Haus.

Ilse Aichinger

Über Heimat

Das prägende Ereignis in der Biographie Ilse Aichingers – die Urkatastrophe ihres Lebens, wenn man so will – war der Nationalsozialismus.

1921 als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nicht-jüdischen Lehrers in Wien geboren, lernte Aichinger früh schon den in ihrer Heimatstadt so weitverbreiteten Antisemitismus kennen. 1938 – Ilse Aichinger ist 17 – marschieren die Nazis in Österreich ein. Zusammen mit ihrer Mutter muss die junge Frau fortan unter dem Gefühl ständiger Bedrohung leben. Der Vater scheidet nach früher Scheidung als Beschützer aus, Aichingers Schwester emigriert nach England, ihre Mutter muss den Beruf als Schulärztin aufgeben und arbeitet in einer Fabrik. Im Mai 1942 werden Ilse Aichingers Großmutters und die jüngeren Geschwister der Mutter nach Minsk deportiert und ermordet. Sie selbst und ihre Mutter überleben. Über den Verlust der geliebten Großmutter ist Ilse Aichinger allerdings nie hinweggekommen.

Ilse Aichinger

Über Schuldgefühle angesichts ihres eigenen Überlebens.

Im Werk der Ilse Aichinger werden die traumatisierenden Erfahrungen der Nazizeit immer wieder thematisiert, oft in Verschlüsselungen, in Andeutungen, wie in dem folgenden Gedicht:

Ilse Aichinger

liest "13 Jahre"

Nicht nur in ihrer Lyrik, auch in Prosatexten und vor allem in ihrem berühmten Roman "Die größere Hoffnung", erschienen im Jahr 1948, hat Ilse Aichinger von den Qualen und Bedrängungen der nationalsozialistischen Herrschaft berichtet. Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleines, halbjüdisches Mädchen, das die Verfolgung in seiner Heimatstadt Wien hautnah miterlebt – aus kindlicher, mit Traum-Sequenzen angereicherter Perspektive wird das Bedrohliche, das Beklemmende dieser Jahre geschildert.

Dem Roman war bei seinem Erscheinen 1948 kein Erfolg beschieden. Das Avancement der "größeren Hoffnung" zum Klassiker der Nachkriegsmoderne vollzog sich erst später.

Ilse Aichinger

"Drei Jahre lang sind, glaube ich, drei Exemplare verkauft worden."

In den frühen fünfziger Jahren tritt Ilse Aichinger bei der "Gruppe 47" auf. Ein großer Erfolg. Sie freundet sich mit Heinrich Böll und anderen Heroen der literarischen Nachkriegs-Opposition an, bei der "Gruppe 47" lernt sie auch ihren späteren Mann kennen, den Schriftsteller Günter Eich. Das unten stehende Bild zeigt sie mit ihrem späteren Mann (rechts) und Heinrich Böll (links).

Ilse Aichinger

"Es war für mich und für ihn immer eine Freude, dass derjenige, mit dem man sich zu leben entschlossen hat, weiß, was schreiben heißt.”

Poetik des Schweigens

Das Schweigen spielt im Werk der Ilse Aichinger eine tragende Rolle. Sie hat eine eigene "Poetik des Schweigens" entwickelt. Jeder Satz, so formulierte sie, müsse durch ungeheuer viele ungeschriebene Sätze gedeckt sein. Man müsse dem Wortschwall der Alltagswelt, dem achtlos dahingeschluderten Wortmüll, eine Besinnung auf das Essentielle, auf das Ungesagte entgegenstellen.

Ilse Aichingers eigene Schreibtechnik hat eine gewisse Ähnlichkeit mit bestimmten Meditations-Praktiken des Zen-Buddhismus aufgewiesen. Für Dichtung sei es wesentlich, das Unbewusste zu seinem Recht kommen zu lassen, betonte Ilse Aichinger und zog in einem Interview den Vergleich mit dem berühmten Jongleur Rastelli.

Ilse Aichinger

"Ich muss müde werden, damit das Schreiben allein sein kann.”

Weitere Schicksalsschläge

Von Schicksalsschlägen ist Ilse Aichinger auch im Alter nicht verschont geblieben. Ihr Sohn Clemens, ebenfalls Schriftsteller, kam 1998 im Alter von 44 Jahren durch einen Unfall zu Tode. Er stürzte über die Treppe der Wiener U-Bahn-Station "Kettenbrückengasse". Ilse Aichinger scheint um die Gefährdungen ihres Sohnes gewusst zu haben. Schriftsteller sei kein gesunder Beruf. Die Suizide bei Schriftstellern seien häufig, als nächstes kämen die Fleischhauer, weil der Beruf in die Isolierung führe, weil man ja allein sein muss, wenn man schreibt.

Es gibt im Werk Ilse Aichingers keine fahrlässigen Sätze. Genauigkeit war die hervorstechende Tugend dieser Autorin, in Erzählbänden wie "Der Gefesselte" und "Eliza Eliza" hat sie das ebenso unter Beweis gestellt wie in ihren Gedichten und den berühmten Hörspielen, "Besuch im Pfarrhaus" etwa oder "Knöpfe".

Ilse Aichinger

"Die Worte sind das Einzige, wodurch ich mir eine Realität erschaffe."

Ilse Aichinger hat gewusst, dass das Wort, erst recht das dichterische, gegen Marschtritte und Deportationsbefehle nichts auszurichten vermag. Folgerichtig kündet ihr Werk von der Ohnmacht des Worts. Aber eben auch: von seiner Macht.

Ilse Aichinger

Ilse Aichinger im Rahmen der Austellung "Ilse Aichinger-Fotografien von Stefan Moses", 2007

APA/HERBERT PFARRHOFER

Preise und Auszeichnungen

Zu den vielen Auszeichnungen, mit denen Ilse Aichinger geehrt wurde, zählen der Anton-Wildgans-Preis (1968), der Petrarca-Preis (1982), der Große Österreichische Staatspreis für Literatur (1995) oder im Vorjahr der Große Kunstpreis des Landes Salzburg. Die Jury des Joseph-Breitbach-Preises, der höchstdotierte Auszeichnung für Schriftsteller in Deutschland, den sie im Jahr 2000 erhielt, lobte Aichingers "strenge, hellsichtige, unerhört konzentrierte, oft geisterhaft wirkenden Arbeiten", die "das Schweigen zugleich brechen und bewahren". In der Begründung für die Verleihung des "Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln" (2002) hieß es: "Ilse Aichingers Werk beschreibt auf vielschichtige Weise die Möglichkeiten, die Barrieren zwischen konstruktivem Zusammenleben und gegenseitigem Unverständnis zu überwinden."

Text: Günther Kaindlstorfer, Red.