"Das unbekannte Mädchen" im Kino
In ihrem neuen Film erzählen die Dardenne-Brüder von einer obsessiven Suche der Ärztin Jenny (Adèle Haenel) - sehenswert.
8. April 2017, 21:58

Hätte Jenny das Verbrechen verhindern können?
Polyfilm
Mittagsjournal, 6.2.2017
Sozialrealismus & Kriminalgeschichte
Das belgische Regieduo Jean-Pierre und Luc Dardenne ist bekannt für seine mehrfach preisgekrönten Sozialdramen, in denen Arbeitslosigkeit, Armut oder Kleinkriminalität als Folgen gesellschaftlicher Missstände thematisiert werden. Ende der Woche kommt ihr zehnter Spielfilm ins Kino: "Das unbekannte Mädchen" mit Adèle Haenel in der Hauptrolle. Wieder einmal im Milieu der sogenannten "kleinen Leute" angesiedelt, mischt sich darin Sozialrealismus mit Kriminalgeschichte.
Spät abends, lange nach Ordinationsschluss läutet es noch einmal an der Tür. Der Praktikant will öffnen, doch die junge Ärztin Jenny Davin verbietet es ihm. Wäre es dringend, würden sie sicher noch einmal läuten, meint sie. Es war dringend. Am nächsten Tag erfährt Jenny vom Tod eines Mädchens mit ungeklärter Identität, jenes Mädchens, das so spät noch zu ihr wollte, offensichtlich auf der Flucht vor ihrem Peiniger.
Kann Jenny die Leute verändern?
Die Nachricht ändert Jennys Leben radikal. Sie schlägt eine prestigeträchtige Stelle als Wissenschaftlerin aus und bleibt in der kleinen Kassenpraxis an der Schnellstraße, von wo aus sie unermüdlich Nachforschungen anstellt bei Patienten und Nachbarn. Die Suche nach dem Namen und der Geschichte des unbekannten Mädchens wird allmählich zur Obsession.
Luc Dardenne: "Sie fühlt sich als einzige verantwortlich, während sich sonst niemand verantwortlich fühlt. Deshalb führt sie auch ihre eigenen Ermittlungen durch. Sie wird aktiv, zeigt das Foto des Mädchens herum, und bewirkt damit, dass schließlich auch alle anderen die Wahrheit sagen und erklären, in welchem Zusammenhang sie mit dem Tod dieses Mädchens stehen. Darin liegt vielleicht die Hoffnung dieses Films, dass die Ärztin Jenny die Leute verändert."
Schweigsamkeit als Strategie
Komplett ohne Musik, hauptsächlich mit Handkamera gefilmt, und mit reduzierten Dialogen, erzählen die Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne von dieser obsessiven Suche, die Jenny allen Einschüchterungsversuchen zum Trotz beharrlich fortsetzt.
Getrieben von der Frage, ob sie das Verbrechen verhindern hätte können, wird die Protagonistin selbst zum Motor des Films. Ihre Schritte bestimmen den Fortgang der Handlung, ihr unnachgiebiger Blick lenkt die Kamera und ihre augenscheinlich kühle Distanziertheit prägt die Ästhetik des ganzen Films.
Die Schweigsamkeit wird zur Strategie, um andere zum Reden zu bringen und mehr und mehr kristallisiert sich heraus: Das unbekannte Mädchen, ist vor allem Jenny selbst. Scheinbar ohne Wurzeln und soziale Bindung ist sie einfach da, hineingeworfen in dieses Sammelsurium an einfachen Menschen, gleichermaßen am Rand der Schnellstraße und der Gesellschaft, denen sie viel mehr ist als nur die Hausärztin.
Interessante Figurenzeichnungen
Eine etwas komplexere, weniger vorhersagbare narrative Struktur hätte dem Film durchaus gutgetan. Die zahlreichen interessanten Figurenzeichnungen und vor allem das Spiel der Hauptdarstellerin Adèle Haenel machen ihn dennoch sehenswert.