Zum 100. Geburtstag von Will Eisner

Comic als erzählende Kunst

Der Begriff "Graphic Novel" hat sich als Gattungsbezeichnung auch im deutschsprachigen Raum durchgesetzt. Der erste, der diesen Begriff auf einen Buchumschlag drucken ließ, war Will Eisner im Jahr 1978. "A Contract with God" ist der Titel seiner gezeichneten Erinnerungen an das Leben in den Einwanderervierteln der Bronx in New York.

Eisner war zu diesem Zeitpunkt so etwas wie der Hemingway des amerikanischen Comics, einer, der nicht nur die Ästhetik erneuert hat, sondern eine mit Literatur und Film gleichwertige Form des Erzählens etablieren wollte. Am 6. März 1917 wurde Will Eisner als Sohn österreichischer Einwanderer in New York geboren. Seit 1988 ist der Eisner-Award die wichtigste Auszeichnung für Comicschaffende.

"Sehen Sie mich als zeichnenden Zeitzeugen"

"Im Leben wie in der Kunst, Willie, geht es um die Perspektive!", erklärt der Vater seinem Sohn Will Eisner in der gut 200 Seiten umfassenden Comicgeschichte "Zum Herzen des Sturms" (1991), Eisners autobiografischster Erzählung. Darin begleitet man den jungen Soldaten Will Eisner, der 1942 in einem Truppentransport im Zug sitzt und sich aus dem Fenster schauend erinnert: An seine Kindheit in der Bronx in New York, an die Zeit der Depression, die Armut, die Vorurteile, mit denen seine jüdische Familie dort zurecht kommen musste, und auch an die Einwanderungsgeschichte seiner Eltern.

Emigration der Eltern in die USA

Die beginnt in Wien. Dort gestaltet der Vater, Samuel Eisner, Kirchenfresken. Um dem Soldatenschicksal des Ersten Weltkrieges zu entfliehen, wandert er in die USA aus und findet dort Arbeit als Kulissenmaler am jüdischen Theater. Als auch die USA in den Krieg einsteigen und ledige Männer eingezogen werden, heiratet Samuel Eisner in aller Schnelle die entfernte Verwandte Fannie Ingber. Am 6. März 1917 wird deren erstes Kind, William Erwin Eisner, in Brooklyn geboren.

Von seinem Vater habe er die künstlerische Ader, von seiner Mutter den Pragmatismus, erklärt er später in Interviews. In Folge der großen Depression zieht die Familie Eisner mehrfach um. In der Bronx etwa sind die Eisners die einzige jüdische Familie in einer katholischen Umgebung. Antisemitismus und Vorurteile, die ihren Ausdruck in Schlägereien finden, gehören zu Will Eisners Alltag. Doch der Vater lehrt seine drei Kinder, dass friedliche Vernunft der einzig gangbare Weg ist.

Die Familie lebt in Armut - Will Eisner muss bereits als 13-Jähriger das Familieneinkommen aufbessern und Zeitungen verkaufen. Dabei vertieft er sich in die dort abgedruckten Comics. Noch in der Highschool veröffentlicht er 1935 seinen ersten Comic, in dem es um die Armut in der Bronx geht.

Eisner & Iger Studios

Nach dem Schulabschluss zeichnet Will Eisner für einige Magazine und gründet mit dem Redakteur Jerry Iger eine Agentur, die Verlage mit druckfertigen Geschichten versorgt. Die Nachfrage ist groß - Bald hat das Studio 20 Mitarbeiter. So gut wie alle großen Zeichner jener Zeit arbeiten für die Agentur. Anstatt pro Seite zu bezahlen erhalten sie einen Wochenlohn. Das ermöglicht einerseits eine hohe Qualität, andererseits gibt es in den Eisner & Iger Studios schon bald Arbeitsteilung. Ein Zeichner entwickelt die Geschichte, einer skizziert, einer zeichnet mit Tusche nach, ein anderer füllt die Sprechblasen.

Er selbst habe, schreibt Eisner, immer davon geträumt, einen Comicstrip für Erwachsene zu zeichnen. Als er dieses Angebot schließlich bekommt, steigt er bei Eisner & Iger aus. Er entwickelt einen kostümierten Superhelden für Erwachsene. Doch: "Für die Art von Geschichten, wie ich sie erzählen wollte, brauchte ich eine Figur, die verletzlich war und glaubhaft wirkte."

The Spirit - Held für Erwachsene

Eisner erfindet den Privatdetektiv Denny Colt, dem er, der Kostümierung zu Liebe, eine schlichte blaue Augenmaske zeichnet. Dieser Detektiv wird schon in der ersten Geschichte Opfer eines Giftanschlages. Als Totgeglaubter wird er auf dem Friedhof der fiktiven Stadt Central City beerdigt. Doch er kehrt als The Spirit zurück und als solcher wird er zu einer der wichtigsten Comicfiguren in den 40er und 50er Jahren.

Eisners Lieblingsepisode ist die um "Gerhard Shnobble", die 1948 erscheint. Shnobble ist ein kleiner unauffälliger bescheidener Mann, der allerdings Fliegen kann. Just, als er seine Flugkünste zeigen will, und vom Dach eines Hochhauses springt, gerät er in eine Verfolgungsjagd von Spirit und einigen Gangstern. Gerhard Shnobble wird von einem Querschläger getroffen und landet tot auf der Straße. Am Ende der Geschichte wird beklagt, dass niemand Gerhard Shnobble fliegen gesehen hat.

Splash Page - Seite als Gesamtkunstwerk

Für Will Eisner ist die Geschichte ein Wendepunkt: "Zum ersten Mal wurde mir hier bewusst, dass ich in meinen Geschichten persönliche Gefühle ausdrücken konnte. Manchmal, wenn einer meiner Freunde starb, habe ich Rückschau auf sein Leben gehalten und gedacht: Er hat eine Menge guter Dinge getan, aber niemand hat es bemerkt, obwohl er zwischen Tausenden von Menschen lebte. Ich begriff, dass sich im Comic Inhalte erzählen lassen, die mehr in die Tiefe gehen, als das bislang der Fall gewesen war."

"The Spirit" erscheint in 20 Zeitungen in einer Auflage von über 5 Millionen. Zwölf Jahre von 1940 bis 1952 ermittelt der Detektiv - bis heute gilt die Serie mit ihren 645 Episoden zu den am häufigsten nachgedruckten Comics. Legendär sind die sogenannten "Splash Pages". Mit diesen ganzseitigen Illustrationen beginnt jedes Abenteuer von The Spirit. Will Eisner spielt mit Lichtkontrasten, mit Perspektivenwechsel und mit Typographie. Er sprengt die herkömmlichen Erzählraster mit den fixen Kästchen - also die Pannels - und macht die Seite zu einem Gesamtkunstwerk.

Comics für Schulungszwecke

Während seiner Militärzeit ab 1942 zeichnet Eisners Assistent Lou Fine The Spirit. Er selbst arbeitet für Armeezeitungen und entwickelt Comics für Schulungszwecke. Die Instandhaltung und Wartung diverser technische Geräte und Waffen stehen im Mittelpunkt dieser Geschichten, für die er die Figur des Durchschnittssoldaten Joe Dope schafft. Diese Art der Wissensvermittlung kommt gut an - vier Jahre zeichnet er im Pentagon.

Eisner findet Gefallen an Educational Comics und gründet nach dem Krieg die American Visuals Corporation, die unter anderem Comics für Schulen erstellt. Er befasst sich aber auch mit dem Handwerk, der Methode und den vielseitigen Aspekten von Comics, schreibt theoretische Abhandlungen und unterrichtet in den 1970er Jahren an der School of Visual Arts in New York. Seine beiden Bücher "Comics and Sequential Art" und "Graphic Storytelling and Visual Narrative" zählen bis heute zu den wichtigsten Standardwerken. Für Eisner ist der Comic gleichwertig mit Literatur und Film.

Graphic Novel "Ein Vertrag mit Gott"

Für viele Comiczeichner ist Will Eisner "The first of the best and the best of the first". Als solcher wird er in den 1970er Jahren zu einem Comic-Convent eingeladen, wo er auf Vertreter des Underground Comics mit ihren autobiografischen Geschichten trifft. Das ermutigt ihn zu seiner Arbeit "Ein Vertrag mit Gott", eine ernste Geschichte für Erwachsene, die 1978 in einem renommierten Literaturverlag erscheint. Selbstbewusst schreibt Will Eisner "Graphic Novel" auf die Titelseite. Es ist dies das erste Mal, dass der Begriff verwendet wird.

Tatsächlich handelt es sich um vier thematisch zusammenhängende Kurzgeschichten. Sie spielen in demselben Mietshaus in der fiktiven Straße in der Bronx. Es sind Großstadtgeschichten von Einwanderern, kleinen Angestellten und Arbeitern, die ums Überleben kämpfen und in der neuen Welt ihren Platz suchen.

Im Vorwort erklärt Will Eisner: "Sehen Sie mich als zeichnenden Zeitzeugen, als zufälligen Beobachter, der vom Leben erzählt und vom Tod, der von tragischen Vorfällen berichtet und von der niemals endenden Mühsal, sich zu behaupten … oder zumindest nicht unterzugehen."

Trauer & Ärger vermitteln

Sein Hauptaugenmerk liege nicht auf der bloßen Darstellung der Ereignisse, so Eisner. Ihn interessiere die Bewegung der Bilder, die Gefühlen. Er wolle Trauer genauso wie Ärger vermitteln. Das, so Eisner, ließe sich einfacher beschreiben, doch ihn interessiere die visuelle Kommunikation.

In der titelgebenden Geschichte "Ein Vertag mit Gott" bricht ein gläubiger Jude nach dem Tod seiner Tochter mit Gott. Hat Gott den Menschen geschaffen oder haben die Menschen Gott geschaffen, fragt er sich. Erst 34 Jahre nach der Veröffentlichung, gesteht Will Eisner den autobiografischen Zusammenhang: Seine einzige Tochter ist acht Jahre vor Erscheinen des Buchs an Leukämie gestorben.

Klassiker & Alltagsgeschichten

Das Buch ist, trotz der geringen Auflage von 1.500 Stück ein voller Erfolg. Es wird immer wieder neu aufgelegt und mehrfach übersetzt. Später folgen andere Graphic Novels aus der Bronx wie "Der Träumer", "Zum Herzen des Sturms" oder "Dropsie Avenue". Will Eisner adaptiert auch klassische Werke als Comic - etwa "Moby Dick" oder "Oliver Twist".

Kurz vor seinem Tod beendet er eines der führ ihn wichtigsten Werke: "Das Komplott - Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion". Zwanzig Jahre lang hat er daran gearbeitet. Einmal mehr wendet er sich zeichnerisch gegen Antisemitismus, Vorurteile und Verschwörungstheorien.

Im Dezember 2004, einen Monat vor seinem Tod schreib Will Eisner: "In einem Alter, in dem ich mich hätte 'zur Ruhe setzen' können, beschloss ich deshalb, mich an eine neue Form von Comic-Literatur zu wagen und entschied mich für den scheinbar widersprüchlichen Begriff Graphic Novel als Gattungsbezeichnung. Es sind viele Jahre verstrichen, bis meine Auffassung von den Möglichkeiten der Bilderzählung wahrbenommen wurde und langsam Früchte zu tragen begann - aber ich habe es noch erleben dürfen."

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Will Eisner