AP/Eduardo Verdugo
Radiokolleg
Hundert Jahre Einsamkeit
Anfang der 1960er Jahre schien der Roman – zumindest in Europa – keine Zukunft mehr zu haben. Das Potenzial dieser literarischen Gattung war nach Ansicht von Expert/innen erschöpft. Doch dann kamen die Lateinamerikaner und die Generation des sogenannten Booms.
8. Juli 2017, 02:00
Autoren wie der Kolumbianer Gabriel García Márquez, der Argentinier Julio Cortázar und der Peruaner Mario Vargas Llosa zeigten, wie man mit dicken Romanen Geschichte, Politik, Kultur und Befindlichkeit eines ganzen Kontinents kritisch-analytisch und zugleich packend aufarbeiten konnte.
Lesevergnügen und Vielschichtigkeit
Größtes Lesevergnügen und unglaubliche Vielschichtigkeit nannten Schriftstellerkolleg/innen und Literaturwissenschafter/innen sofort als Wesensmerkmale von Gabriel García Márquezʼ Roman "Hundert Jahre Einsamkeit", der 1967 veröffentlicht wurde. Die Leser und Leserinnen rund um den Globus gaben ihnen recht. Das Werk erreichte in zahlreichen Übersetzungen Millionenauflagen und zählte bald zu den meistverkauften Büchern weltweit.
Magischer Realismus
In seinem Roman erzählt Gabriel García Márquez die Geschichte der Familie Buendía und des fiktiven Ortes Macondo während eines turbulenten Jahrhunderts. Er bedient sich dabei des Magischen Realismus, eines Stils, in dem sich Fakten und Fiktives, Reales oder real Erscheinendes und Fantastisches mit Mythen und Legenden vermischen.
Fantastischer Bilderreichtum
Márquez nannte als bedeutende Einflüsse auf sein Schaffen die europäischen Schriftsteller Franz Kafka und James Joyce, vor allem aber auch die Welt, in der er selbst aufwuchs. An der karibischen Küste von Kolumbien hätten indigene Weltvorstellungen, die christliche Kultur und diverse koloniale Strömungen ein ganz eigenes Gemisch ergeben. Niemand verkörperte diese Welt eindrucksvoller als Márquezʼ eigene Großmutter. Sie pflegte ihm in seiner Kindheit Geschichten zu erzählen, die von einem fantastischen Bilderreichtum geprägt waren. Dabei habe sie auch das unglaublichste Geschehen stets so geschildert, als ob es ganz normal wäre und sie selbst es gerade erlebt hätte, betonte Gabriel García Márquez.
"Am liebsten wäre ich ein Zauberer geworden, doch dafür war ich zu schüchtern, ich kann nicht vor Publikum zaubern. Also wählte ich die Einsamkeit der Literatur", sagte er einmal in einem Interview.
Der Autor
38 Jahre war der Autor alt, verheiratet und Vater zweier Söhne, als er sich 1965 an seinen Tisch setzte, um sein Opus magnum zu verfassen. Er hatte bereits vier Bücher publiziert, die sich aber nur in geringen Zahlen verkauften. Sein Leben bestritt er eher bescheiden mit seiner journalistischen Tätigkeit. Mit "Hundert Jahre Einsamkeit" gelang ihm der Durchbruch. 1982 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Die Seele von Lateinamerika
Der Magische Realismus fand in der Folge zahlreiche Anhänger/innen und auch eher umstrittene Epigonen. Inzwischen sind neue Generationen lateinamerikanischer Autoren und Autorinnen herangewachsen, fern der karibischen Küste und geprägt von den großen Metropolen mit deren Problemen und Widersprüchen. "Wir leben, denken und schreiben heute anders", meint der kolumbianische Autor Jorge Franco Ramos, der noch ein kleines Kind war, als "Hundert Jahre Einsamkeit" erschien. Doch eines steht für ihn fest: Das Werk von Gabriel García Márquez, der 2014 starb, werde die Zeiten dennoch überdauern. "Die größte Leistung des Buches liegt wohl darin, dass es – wie wenige andere – die Seele von Lateinamerika, die Essenz von Lateinamerika erfasst hat."
Gestaltung
- Brigitte Voykowitsch