Theodora Bauer

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Leporello

Theodora Bauer und ihr Roman "Chikago"

"Chikago" - mit "k" - heißt eine Siedlung "ein bisschen außerhalb vom Ort, hinter dem Friedhof" in der burgenländischen Grenzgemeinde Kittsee. Sie ist titelgebend für Theodora Bauers Roman, der um die Themen Migration und Identität kreist.

Ende des 19. Jahrhunderts in rasantem Tempo aus dem pannonischen Boden gestampft und nur einen Steinwurf weit von der Burg in Bratislava entfernt, erinnern die Häuserzeilen heute daran, dass das - mit "c" geschriebene - Chicago Amerikas einmal Sehnsuchtsort für zahllose Burgenländer auf der Suche nach dem Glück war.

Angeblich hat ein Auswanderer die Siedlung so genannt, der zurückgekehrt ist, noch vor dem Krieg: ‘Ihr bauts ja da wie in Chikago‘, soll er gesagt haben, und damit haben die Häuserzeilen ihren Namen gehabt.

Gegen die weißen Flecken der Familiengeschichte

Zwei große Auswanderungswellen gab es in der jüngeren Geschichte des Burgenlandes, das bis 1921 zu Ungarn gehörte: eine in den 50er-, und eine in den 20er-Jahren. Theodora Bauer, Jahrgang 1990, ist selbst im Burgenland aufgewachsen. Immer wieder war in ihrer Kindheit die Rede von einem "reichen Onkel" oder der "Tante aus Amerika"; auf Nachfrage erhielt sie später indes nur spärliche Hinweise auf eine Migrationsgeschichte.- Ihre Heimat, so Theodora Bauer, schien ein weißer Fleck auf der Landkarte der Welt zu sein, ein verlorener oder vergessener Ort.

Buchcover, historisches Foto von Auswanderern auf einem Schiff

Picus Verlag

Theodora Bauer, "Chikago", Picus

Die junge Autorin wollte sich diese Geschichte des Burgenlands daher einmal näher anschauen. Wer waren jene Glücksritter, die, so die Diktion im Land und auch im Buch, "auf Amerika" gingen? Die ihre alte Welt unter oft abenteuerlichen Umständen hinter sich ließen, um "drüben" ihr Leben neu zu beginnen.

Die erste Auswanderungswelle

Theodora Bauer konzentrierte sich bei ihren Nachforschungen auf die erste der beiden Massenbewegungen nach Amerika - die Auswanderung in den Zwanzigerjahren: "Es waren hauptsächlich verarmte Bauern, die aufgrund von Erbschaftsregeln, die die Höfe oft bis ins Bodenlose zergliederten, von ihrem Grund nicht mehr leben konnten". Dazu kamen Überbevölkerung, Austeritätspolitik und die beginnende Mobilität. Und noch ein Grund war entscheidend: "die Unsicherheit über die eigene Identität", so Theodora Bauer.

Das Burgenland war das einzige Stück Land, das Österreich nach dem 1. Weltkrieg sozusagen "dazubekam". Ungarische Freischärler leisteten zwar bis in den Herbst des Jahres 1921 hinein Widerstand gegen die "Landnahme" durch Österreich, doch schließlich wurden die Grenzen neu gezogen. Theodora Bauer: "Man wusste nicht, wer man eigentlich ist, man war am selben Ort wie vorher, doch um einen herum hatte sich alles geändert." Eine Protagonist im Buch ist die kroatische Auswanderin Ana oder Anica:

Die Ana hat sich gefragt, ob man das überhaupt können hat, ob man das dürfen hat, so einfach ein neues Land schaffen. Und was dann passiert? Ob man ihn spürt, den genauen Moment, wo ein Land zu einem anderen wird? .. Vielleicht passiert auch gar nichts, vielleicht ändert sich auch gar nichts, vielleicht ist alles so wie immer, die Anica hat es nicht gewusst.

Eine historische Analyse ist eine Sache - Literatur eine andere. Ein geglückter Roman, so Theodora Bauer, mache die Essenz der Dinge sichtbar, Geschichte könne mit Hirn und Herz erfahren werden.

Traum und Wirklichkeit

Für die meisten ausgewanderten Burgenländer zerbrach der amerikanische Traum. Das mythenumrankte Chicago erwies sich nicht als Paradies, sondern als gnadenloser Koloss, der die Ärmsten wieder ausspuckte. Ein Arbeitsunfall in Chicago führte damals mangels Absicherung ins Verderben; nicht erfüllbare Erwartungen endeten oft in Trunksucht und Tod; Sprachlosigkeit bedeutete soziale Isolation. Auflehnung gegen Ausbeutung und unmenschliche Lebensbedingungen gab es dennoch.

Eine zentrale Rolle im Buch "Chikago" spielt ein Streik, der 1937 als "Memorial Day Massacre" in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

"Die Polizei hat damals die Streikenden mit Waffengewalt zurückgedrängt und behauptet, ein Arbeiter habe einen Stein geworfen", fasst Theodora Bauer ihre Recherchen zusammen, "später stellte sich heraus, dass sämtlichen Opfern in den Rücken geschossen worden war."

Es ist ein weiter Weg von Chikago "mit k" nach Chicago "mit c". Eine Protagonistin in Theodoras Buch - "die Ana" - ist den Weg gleich zweimal gegangen. Einmal hin. Und dann wieder zurück.

Theodora Bauer ist sich der Parallelen zur Gegenwart natürlich bewusst. Mit klarem Blick beobachtet sie die globalen Migrationsbewegungen, doch ihre Augen sind auch die einer Dichterin, die auf eine andere Geschichte blickt: auf die ewige Geschichte der Menschheit: "Träume sind nach wie vor ein großer Motor für Bewegungen Manche werden zwangsläufig zerstört werden, aber trotzdem sollten die Leute nicht aufhören zu träumen."