Tehran

ATTA KENARE / AFP

Der Irak-Roman zur Stunde

Ruinen und Träume

In seiner nordirakischen Heimat gilt der kurdische Schriftsteller Bachtyar Ali schon lange als einer der beliebtesten Autoren, jetzt hat er auch in Deutschland den mit 15.000 Euro dotierten Nelly Sachs Preis gewonnen. Dieser Tage ist sein Roman "Die Stadt der weißen Musiker" auf Deutsch erschienen.

Der verborgene Magier

"Wie konnte ein solcher Autor sich vor unserem Buchmarkt so lange verbergen, fragte sich das Feuilleton letztes Jahr überrascht als erstmals ein Roman von Bachtyar Ali in deutscher Übersetzung erschien. "Der letzte Granatapfel", so der Titel, erzählte die Geschichte der irakischen Kurden, aber auf eine traumhafte, dem magischen Realismus nahestehende Weise.

Musiker versus Diktator

Im neuen Roman "Die Stadt der weißen Musiker" ist es jetzt ein Flötenspieler, der während des Iran-Irak-Kriegs und während des Terrorregimes Saddam Husseins zu überleben sucht. Und wieder wechselt das Geschehen zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsebenen hin und her.

"Wir haben im Orient nur Ruinen und Träume. Und die reale und surreale Welt sind so eng miteinander verknüpft, dass sie sich eigentlich nicht voneinander trennen lassen. Denn wenn die Realität so hart ist, sucht man nach einem Ausweg und der liegt bei uns eben in der fantastischen und irrealen Welt", sagt der 51jährige Bachtyar Ali. Der orientalische magische Realismus, meint er, sei deshalb auch wesentlich politischer und viel enger mit der realen Geschichte verknüpft als seine südamerikanische oder japanische Spielform.

Museum der Träume

Ali selbst kam in den 1980er-Jahren im Zuge der damaligen Studentenproteste mit dem Regime Saddam Husseins in Konflikt. Nicht nur die Menschen wurden damals gefoltert oder getötet, erzählt Ali, auch ihre Bücher und Kunstwerke verschwanden: "Als ich jung war, habe ich deshalb immer mit meinen Freunden darüber gesprochen, dass es einen versteckten Ort geben müsste, an dem all diese Kunstwerke bewahrt würden und diese Idee hat mich seitdem immer begleitet."

Und so betreibt im Roman ein Mann im Keller seines Hauses ein Museum der Träume, in dem all diese Werke gesammelt sind.

Stadt der Bordelle

Der Flötenspieler Dschaladit Kotr, die Hauptfigur im Buch, entdeckt dieses Museum in einer geheimnisvollen Stadt der traurigen Reisenden, einer abgelegenen Ansiedlung in der Wüste, die fast ausschließlich aus Freudenhäusern besteht. Bachtyar Ali: "Solche Städte hat es vom Beginn des 20. Jahrhunderts an immer gegeben. Und in den Zeiten von Saddam Hussein sind die stark angewachsen, was auch viel mit dem Krieg zu tun hatte."

Orientalischer Faschismus

Bachtyar Ali lebt seit Mitte der 90er-Jahre in Deutschland. Und er möchte nicht den Westen allein für den Krieg und die politischen Verwerfungen im Irak in die Verantwortung ziehen. Vielmehr gehe es um die dringende Aufarbeitung einer lange Zeit völlig unkritisierten "Vernichtungsmentalität", so Bachtyar Ali: "Man muss ganz klar von einer orientalischen Art des Faschismus sprechen. Der ist nicht erst mit der IS gekommen, sondern war schon vorher da. Da geht es um den antisemitischen Hass gegen Juden, um den Hass gegen andere Minderheiten und um die Intoleranz gegen Frauen und Schwule. Es gab da keine richtige Kritik an diesen Grundlagen des Faschismus."

Schriftsteller zwischen den Wirklichkeiten

Der Flötenspieler Kotr ist ein Wanderer zwischen den Welten, einer der wenigen Menschen, die Zugang zur mythischen Stadt der weißen Musiker haben. Und Bachtyar Ali ist einer der ganz wenigen Schriftsteller, der dieses magische Nebeneinander der Welten beschreiben kann ohne dabei die politische Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren.

Die Stadt der weißen Musiker - Ein Buch über den Irak, seine alten Legenden und seine jüngste Geschichte, das mehr sagt als tausend Nachrichtenbilder.

Service

Bachtyar Ali, "Die Stadt der weißen Musiker", Unionsverlag

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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