Herbert von Karajan

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Kulturjournal spezial

Karajan als Künstler und historische Figur

Am 5. April dieses Jahres wäre Herbert von Karajan 110 Jahre alt. Zu diesem Anlass sind schon jetzt zahlreiche Publikationen herausgekommen, aus denen zwei besonders hervorstechen: Zum einen die bisher größte Gesamtedition seiner Aufnahmen, zum anderen ein Buch, das neue Erkenntnisse zur Rolle des Dirigenten während der NS-Zeit zutage bringt.

Kulturjournal spezial | 04 01 2018 | Buch

Neueste Forschungsergebnisse zu Karajans NS-Vergangenheit - eine Publikation von Klaus Riehle

Judith Hoffmann

Opulente DG-Edition

"So monumental und widersprüchlich, wie der Salzburger Maestro es selbst immer war"

Gernot Zimmermann

Musste sich Herbert von Karajan mit dem System arrangieren, oder spielte er eine aktivere Rolle im Nationalsozialismus? Bis heute steht die Forschung vor zahlreichen biografischen Lücken und widersprüchlichen Aussagen zu diesem Thema. Fest steht, dass der junge Dirigent, der zunächst in Ulm und Aachen gewirkt hatte, 1938 in Berlin als "Wunder Karajan" gefeiert wurde. In diesem Jahr begann seine Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon und seine erfolgreiche Vermarktung durch die Propaganda der Nationalsozialisten. Wie sehr er jedoch selbst deren Ideologie und Politik verbunden war, darüber schwieg der Künstler Zeit seines Lebens. Eine neue, umfangreiche Publikation hat nun der Karajan-Forscher Klaus Riehle veröffentlicht: "Herbert von Karajan - Neueste Forschungsergebnisse zu seiner NS-Vergangenheit und der Fall Ute Heuser" (Verlag Ibera).

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Vom Schweigen über frühe Erfolge

Die Ouvertüre zu Mozarts Zauberflöte war Herbert von Karajans erste Aufnahme für die Deutsche Grammophon, die er 1938 mit der Staatskapelle Berlin einspielte. Später allerdings ließ er sie gerne unerwähnt, zumal vor der Entnazifizierungskommission, sagt der Karajan-Forscher Klaus Riehle: "Warum er das verneinte, und auch zwei Dirigate an der Mailänder Scala verschwieg, ist die große Frage. Das ist, als würde Bayern München sagen, sie hätten in den 70er Jahren nie den Europapokal gewonnen."

Riehle, der sich seit 20 Jahren kontinuierlich mit der Nazi-Vergangenheit des Stardirigenten auseinandersetzt, findet dafür nur eine plausible Erklärung - Kalkül: "Hätte er diese Engagements erwähnt, hätte er sich von der Entnazifizierungskommission weitere Fragen gefallen lassen müssen, also gehe ich davon aus, dass er sie lieber verschwieg."

Nachforschungen und viel pikante Details

Riehle bohrte nach, führte Gespräche mit Zeitzeugen und anderen Forschern, und bringt nun in seinem Buch eine Reihe delikater Details zutage. Auch den ewigen Mythos der doppelten Parteimitgliedschaft Karajans greift er wieder auf. Nur einmal, 1933, ist Karajan in Salzburg der NSDAP beigetreten, so Riehle: "Dass er ein zweites Mal, 1935, eintreten musste, um die begehrte Stelle des Generalmusikdirektors in Aachen zu bekommen, stimmt nicht, er war schon Parteimitglied."

Wie sich die Erzählung von der karrierebedingten Parteizugehörigkeit ab 1935 dennoch so lange im öffentlichen Bewusstsein halten konnte? - "Diese Vorstellung hat sich einfach in den Köpfen festgefräst", sagt dazu der Zeithistoriker Oliver Rathkolb, der selbst langjährige Forschungen zu Karajans Verbindungen zur NSDAP durchführte. Er kommt zum Fazit:

"Karajan hat es einfach perfekt verstanden, seine eigene Biografie zu konstruieren."

Herbert von Karajan, 1971

Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker, 1971

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Dekonstruktion einer perfekt konstruierten Biografie

Genau diese Konstruktionen zu dekonstruieren ist das ambitionierte Vorhaben von Klaus Riehles neuester Karajan-Publikation, die zahlreiche Zeitzeugenaussagen, Interviews und andere Quellen enthält. Entstanden ist sie in enger Zusammenarbeit mit dem Cellisten Ralph Braun, der wesentliche Forschungsergebnisse zur NS-Musikpolitik beisteuerte. Das erklärte Ziel: "Dass dieses Lügenhaus einstürzt, das er selber aufgebaut hat."

Mit diesen "Lügen" meint Riehle vor allem die widersprüchlichen Aussagen Karajans gegenüber der Entnazifizierungskommission und in späteren Interviews, etwa wenn es um seine Auftragslage während des NS-Regimes ging: "Er war nicht der mittellose Dirigent ohne Aufträge, wie er sich vor der Entnazifizierungskommission darstellte, ganz im Gegenteil, er hatte Aufträge und hat auch irrsinnige Gehaltsanforderungen gestellt."

Karajan als SD-Spitzel?

Das "Wunder Karajan" sei ab 1938 als kulturelles Aushängeschild des NS-Regimes international gefeiert worden. Mit der regen Auslandstätigkeit verbunden war möglicherweise auch eine außermusikalische Funktion Karajans, nämlich im SD, dem Sicherheitsdienst der SS, so Riehle. "Welche Funktion er dabei genau erfüllte, muss noch erforscht werden, aber meiner Meinung nach ging es darum, vor allem Musikerkollegen im Ausland zu bespitzeln." Eine entsprechende Quelle sei nun erstmals in seinem Buch veröffentlicht worden, so Riehle, nämlich ein Dokument bzw. eine Karteikarte, die Karajan als Mitglied des SD anführt.

Oliver Rathkolb gibt sich dazu vorsichtig: "Ich habe dieses Dokument schon in meiner Dissertation publiziert, aber es gibt keine weiteren Hinweise auf derlei Aktivitäten Karajans. Das wäre auch nicht typisch für ihn."

Enthüllungen um eine uneheliche Tochter

Doch die Fäden zu vernähen, einzelne Aspekte erschöpfend zu beleuchten, ist Riehles Ansinnen ohnehin nicht. Seine umfangreiche Quellensammlung gibt vielmehr Anstöße für weitere, vertiefende Auseinandersetzungen. Zum Beispiel der "Fall Ute Heuser", wie Riehle es im Untertitel des Buches nennt: In den 1980er Jahren wurde bekannt, dass die Sängerin Ute Heuser eine uneheliche Tochter Herbert von Karajans ist.

Riehle lässt sie in seinem Buch ausführlich zu Wort kommen und erwähnt auch den Vaterschaftsprozess in Salzburg, bei dem ein weiteres pikantes biografisches Detail bekannt wurde: "Karajan selbst hat immer gesagt, er sei nie bei der Wehrmacht gewesen. Im Vaterschaftsprozess für Ute Heuser, sagte seine zweite Frau, Anita Gütermann, allerdings aus, dass ihr Mann 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurden und sechs Wochen, vielleicht auch länger, dabei war." Auch Ute Heusers Mutter gab zu Protokoll, Herbert von Karajan 1942 in Wehrmachtsuniform getroffen zu haben, ebenso wie andere Zeitzeugen in Deutschland und Italien.

Herbert von Karajan, 1968

AP

Undurchsichtige politische Rolle

War der Uniformträger, Wehrmachtssoldat und eventueller SD-Spitzel Herbert von Karajan also alles andere als ein einfaches Parteimitglied, das notgedrungen der NSDAP beitrat, um seine Karriere voranzutreiben? Ja und nein, meint Oliver Rathkolb: "Der Nationalsozialismus hat ihn sicher fasziniert, er war ein junger Dirigent, der dort große Karriere machte", andererseits, und hier bezieht sich Rathkolb auf ein Interview des kritischen Karajan-Biografen Robert Bachmann mit dem Dirigenten, "hat er gesagt, die NSDAP-Mitgliedschaft sei für ihn wie die Mitgliedschaft beim Alpenverein gewesen, damit man billig in einer Hütte übernachten kann. Und er meinte, letztendlich hätte er einen Mord begangen, um die Aachener Stelle zu bekommen. Hier sieht man also wieder den karrierefixierten Karajan", dem die Karriere ungleich wichtiger war als die Ideologie, so Rathkolb.

Absprachen nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach Kriegsende, so hält Klaus Riehle fest, kommt es in St. Anton zu einem Treffen zwischen Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler, die zeitlebens als verfeindete Konkurrenten galten. Riehles Einschätzung: "Sie haben sich wohl abgesprochen, damit keiner den anderen vor der Entnazifizierungskommission verrät." Zumindest im Fall Karajan scheint dieses Unterfangen gut gelungen, ebenso wie bei vielen anderen ehemaligen Parteigenossen, und parteinahen Künstlern.

Nach ersten Forschungen in den 50er Jahren herrschte lange Zeit Schweigen über die Rolle Karajans im NS-Regime, erst der Musikwissenschaftler Fred K. Prieberg bracht damit, als er 1982 sein Buch "Musik im NS-Staat" veröffentlichte. Weitere bedeutsame Publikationen von Robert Bachmann, Roger Warren und Oliver Rathkolb sollten folgen.

Herbert von Karajan - Neueste Forschungsergebnisse zu seiner NS-Vergangenheit und der Fall Ute Heuser

IBERA VERLAG

Späte, zaghafte Aufarbeitung und ein beharrlicher Geniebegriff

Weshalb die NS-Vergangenheit gerade bei herausragenden Künstlern wie Herbert von Karajan erst spät und vergleichsweise zaghaft untersucht wurde? "Wir leben immer noch mit dem Geniebegriff des 19. Jahrhunderts", so Rathkolbs Antwort. "Von der Wiege bis zur Bahre muss alles perfekt sein, damit das Genie strahlen kann. Dass es da auch Brüche und Verfehlungen gibt, will man nicht hören."

Eine Erkenntnis, die Klaus Riehle nach mehr als 20-jähriger Forschungstätigkeit aus eigener Erfahrung bestätigt: "Ich habe mir am Anfang gedacht, man müsse bei den Feingeistern nicht viel nachforschen, denn da gebe es keinerlei Verfehlungen. Das war sicher eine meiner größten Enttäuschungen, zu sehen, welche Vergehen da im Kunst- und Musikbereich begangen wurden."

Nur ein Rädchen im großen Nazi-Uhrwerk

Und Riehle kommt zum Schluss: "Karajan ist sicher nicht der einzige Beelzebub, vielmehr muss man ihn als Teil des gesamten Geflechts betrachten." Nur zwei von zahlreichen Namen aus seinem Buch seien an dieser Stelle erwähnt: Heinz Drewes, Leiter der Abteilung Musik im Propagandaministerium und einer der Wegbereiter des jungen Karajan, und Rudolf Vedder, Karajans Konzertagent mit beachtlicher SS-Karriere.

Klaus Riehle dazu: "Je weiter man sich in die Materie vertieft, desto mehr dringt man in dieses fast undurchschaubare Geflecht ein und ich muss Ihnen sagen, dass ich es bis heute noch nicht ganz durchblickt habe." Es bleibt also noch genug zu tun.

Service

Klaus Riehle, "Herbert von Karajan - Neueste Forschungsergebnisse zu seiner NS-Vergangenheit und der Fall Ute Heuser", Verlag Ibera
Eliette von Karajan