Renata Schmidtkunz und Christina von Braun

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Im Gespräch

Das einende und trennende Blut

Das Blut hat unser heutiges Verständnis von Verwandtschaft und Gesellschaft seit Jahrhunderten geprägt und geformt. Nicht zuletzt durch medizinische Neuerungen wackelt dieses Gedankengebäude. Christina von Braun hat in ihrem neuen Buch "Blutsbande" die Kulturgeschichte von Verwandtschaft erforscht.

Zum dritten Mal fand in den Sträußelsälen des Theaters in der Josefstadt die Gesprächsreihe "Zeitgenossin im Gespräch" statt. Renata Schmidtkunz sprach diesmal vor ausverkauftem Saal mit der renommierten Berliner Kulturwissenschafterin Christina von Braun. Diese hat mit ihrem neuen Buch "Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte" ein Grundlagenwerk vorgelegt, in dem es um die kulturgeschichtliche Entstehung unseres Verständnisses von Verwandtschaft, Elternschaft und Gemeinschaft geht. Darin verstand es von Braun, einen großen Bogen von der Zeit der Assyrer und der Entstehung des biblischen Judentums über der griechischen Antike hin zur Entstehung des Christentums und zu den aktuellen Problemstellungen rund um die moderne Reproduktionsmedizin zu spannen.

Buch Blutsbande

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Christina von Braun, "Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte", Aufbau Verlag

Das Blut und die Moderne

"Blutsbande" ist eine dichte Aneinanderreihung von Verweisen, Erklärungen und unterschiedlichen Beispielen, die sich nicht auf eine einzige wissenschaftliche Disziplin beschränken lassen. Geschichte, Kulturwissenschaften, Theologie, Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaften finden gleichermaßen Eingang in von Brauns Buch. Auch die religiöse Metaphorik des Blutes legt sie dar. Dabei zieht sie auch in ihrer Argumentation weite Kreise. Sie verfolgt nicht nur den Erzählstrang der Blutsbande und der Verwandtschaft von der Antike in unsere Zeit, sondern nimmt auch Phänomene und Entwicklungen mit auf, die vielleicht auf den ersten Augenblick entfernt liegen mögen. Doch von Braun zeigt, wie unsere Definition von Verwandtschaft ein gewisses Gesellschaftsbild hervorbringt und dadurch andere Bereiche beeinflusst.

Soziale Verantwortung und Wahlfreiheit

Christina von Braun hatte bereits zu ihrer eigenen Familiengeschichte geschrieben. So etwa 2007 in "Stille Post. Eine andere Familiengeschichte". Väterlicherseits stammt die ehemalige Journalistin und Filmemacherin von altem preußischen Landadel ab. Ihr Großvater Magnus von Braun war Pressesprecher der Weimarer Regierung, der Vater Sigismund von Braun Diplomat – im Dienste des NS-Regimes. Ihr Onkel Wernher von Braun war der in Pennemünde auf der Ostseeinsel Usedom tätige Raketeningenieur Hitlers, der nach dem Krieg Direktor der NASA wurde. Ihre Großmutter mütterlicherseits Hildegard Margis hingegen war eine jüdische, feministische Widerstandskämpferin. Sie steht im Zentrum von von Brauns Buch "Stille Post", das 2007 erschien. Erst mit 40 Jahren hatte Christina von Braun erfahren, dass ihre Großmutter jüdisch war.

Die Arbeit an "Blutsbande", so von Braun, habe sie fasziniert, weil es möglich war, die kulturell bedingten, sich verändernden Definitionen von Verwandtschaft aufzuzeigen. Von Braun zeigt auch, dass es neben der Blutsverwandtschaft immer schon viele andere Vorstellungen und Konzepte von Verwandtschaft gab und gibt. Heute rücken die moderne Reproduktionsmedizin, die Öffnungen der Gesellschaft hin zu sogenannten Patchwork Familien oder der gleichgeschlechtlichen Ehe soziale Verwandtschaftsbeziehungen stärker in den Vordergrund. Für Christina von Braun bedeutet das allerdings nicht das unmittelbare Ende der Blutsverwandtschaft.

Neue Formen von Beziehungen

Wie aktuell der Diskurs rund um das Blut einer Gesellschaft, der für von Braun im Zentrum von Rassismus und Nationalismus steht, in der heutigen Zeit ist, beweisen Reden und Äußerungen verschiedener Politiker wie Trump, Erdogan oder Orban. Um als Gesellschaft mit den aktuellen Veränderungen umgehen zu können, ist es wichtig, die Vorgeschichte von Begriffen und Konzepten wie jener der Blutsverwandtschaft und des Blutes zu kennen. Mit "Blutsbande" hat Christina von Braun einen Schlüssel zu diesem Verständnis geliefert und das Publikum im Theater in der Josefstadt dankte es ihr mit konzentrierter Aufmerksamkeit und großem Applaus.

Text: Simon Pötschko