Associated Press
Ö1 Kunstsonntag
Breaking News. Die Nacht der "Machtergreifung"
Das Zeitfenster von 19:30 bis 0:00 am 11. März 1938 bildet eine entscheidende Etappe des sogenannten "Anschlusses" Österreichs an Nazideutschland. Im Live-Kunstsonntag mit Dorothee Frank und Studiogästen wird die Atmosphäre jener Nacht lebendig: auch in teils seit 80 Jahren erstmals gespielten Radio-Originaltönen.
18. April 2018, 10:22
"Gott schütze Österreich"
Am 11. März 1938 um 19:47 wurde das Musikprogramm der RAVAG unterbrochen. Kurt Schuschnigg, der Kanzler des austrofaschistischen Österreich, trat in seinen Amtsräumen am Ballhausplatz vor das Mikrofon, das per Standleitung mit den damaligen RAVAG-Studios in der Johannesgasse verbunden war, und hielt eine knapp dreiminütige Rücktrittsrede:
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Kurt Schuschnigg am 9. März in Innsbruck
"…Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne wesentlichen Widerstand - ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten. (….) So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!"
Jubel und Entsetzen
Die Nachricht löste bei den einen geradezu hysterischen Jubel, bei den anderen Entsetzen aus. Illegale Nazis outeten sich massenhaft, streiften sich die schon vorbereiteten Hakenkreuzbinden über, hunderttausende Hakenkreuzfähnchen wurden geschwenkt. Jüdische Bürger/innen und solche, die mit politischer Verfolgung rechnen mussten, packten die Koffer und versuchten, über die tschechische, slowakische oder ungarische Grenze zu flüchten. Doch die Züge wurden wenn nicht von den Nazis, dann von den Grenzbeamten der Nachbarländer gestoppt.
Österreichiches Filmmuseum
Wiedergefundene Radio-Originaltöne
Radio-Archivalien, Zeitzeugen-Interviews und ein "Meldungsticker" strukturieren den viereinhalb-stündigen Live-Kunstsonntag. Verloren geglaubte Mitschnitte von Reden und Reportagen des 11. März und der Tage danach wurden im Deutschen Rundfunkarchiv wieder aufgefunden. Im Kunstsonntag werden einige dieser historischen Originaltöne zum ersten Mal seit 80 Jahren wieder gesendet, und zwar in voller Länge.
KURIER/GILBERT NOVY; MONTAGE
Parallel zum Multimedia-Projekt "Zeituhr 1938", das am Ballhausplatz projiziert und von uns in einer Außenreportage besucht wird, läuft ein Newsticker in Kurznachrichtenform.
Zeituhr1938
Hubert Klausner, der bald darauf Innen- und Kulturminister wurde, begrüßte den Einmarsch mit Sagern wie diesen:
"In tiefer Bewegung verkünde ich in dieser feierlichen Stunde: Österreich ist frei geworden, Österreich ist nationalsozialistisch. (….) Wieder ist eine nationalsozialistische Erhebung in unvergleichlicher Disziplin verlaufen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass uns die Macht auch in diesem Staate gebührt, so war es diese einzigartige und spontane Erhebung und Machtergreifung. Niemand wurde etwas zuleide getan."
Wahr war vielmehr: Schon in der Nacht kam es zur ersten Verhaftungswelle und ersten "Reibpartien" (Juden mussten Straßen und Mauern von Propaganda für die inzwischen abgesagte Schuschnigg-Volksabstimmung pro unabhängiges Österreich säubern).
Analysen mit Studiogästen
Wie es sich für eine große Breaking-News-Strecke gehört, werden Studiogäste die hysterische, wilde Stimmung jener Freitagnacht schildern; und die Ereignisse analytisch beleuchten. Auch, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
Der Politikwissenschaftler Emmerich Talos erklärt die Entwicklungen von der Vorgeschichte im Austrofaschismus her. Weiters im Kunstsonntags-Studio: Barbara Staudinger und Hannes Sulzenbacher vom KuratorInnenteam der aktuellen Ausstellung "Stadt ohne… Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer" im Metro Kinokulturhaus. Sie sprechen über die Lage der Verfolgten und über sozialpsychologische Aspekte wie die Einübung der Bevölkerung in Empathielosigkeit. Dabei wird die damalige Situation mit Phänomenen der Gegenwart auch in Österreich verglichen, ohne beides gleichzusetzen.
Der Medienhistoriker Fritz Hausjell spricht die Rolle des Radios in der Umbruchsnacht an. Mit den Studiogästen sieht sich Dorothee Frank auch Filmmaterial an: Amateurfilme und eine Polizeidokumentation aus den Anschlusstagen, die die Ereignisse nicht so geschönt wiedergibt wie die bekannten Bilder der Nazi-Propaganda.
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