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Zeitroman
"Stadt ohne Seele. Wien 1938" von Manfred Flügge
Die Annexion Österreichs und die Ereignisse der März-Tage seien vor allem ein Raub der Wiener Seele gewesen, so die These des Romanisten, Historikers und Schriftstellers Manfred Flügge, die er in seinem neuesten Buch "Stadt ohne Seele - Wien 1938“ ausführlich darlegt.
10. Oktober 2019, 12:52
Morgenjournal | 12 03 2018
Kulturjournal | 12 03 | Interview
"An dem März '38 wird in dramatischer Weise deutlich, was das NS-Regime war: Eine Mischung aus organisiertem Jubel und Barbarei (…) In Wien kommt hinzu, dass eine Radikalisierung des NS-Regimes insgesamt geschehen ist - gerade in Bezug auf die Juden und ihren gesellschaftlichen Status." Manfred Flügge
Der Anschluss als "klassische Tragödie"
Zehn Jahre Nachdenken und vier Jahre Recherche habe es gebraucht, um dieses Buch zu schreiben, erzählt Manfred Flügge. Ein Buch, das auch zahlreiche Forschungsergebnisse früherer Arbeiten in sich vereint. "Ich sollte Wien eigentlich dankbar sein für dieses Buch. Es ist für mich der Endpunkt von 30 Jahren Arbeit, die sich hier im März 1938 zusammendrängen in einer Einheit von Ort und Zeit, wie man sie sonst nur im klassischen Drama findet. Und es ist eine Art klassische Tragödie, die sich hier abspielt."
"Manche politischen Gebilde, die Konflikte verschärfen, graben damit sich selbst ihr Grab. Das ist eine klare Lektion der Geschichte." Manfred Flügge
Flügge nähert sich dieser klassischen Tragödie aus unterschiedlichen Richtungen und auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen. Die detaillierte Schilderung der Ereignisse im März 1938 wird eingebettet in eine Reihe von Exkursen in die Kunst- und Geistesgeschichte der Stadt und in die Biografien derer, die ihr die titelgebende Seele eingehaucht hatten.
Kraus, Werfel und immer wieder Freud
"Wien war groß in Psychologie, Medizin und den Naturwissenschaften. Ich nenne es den Wiener Weg der Wahrheitssuche, der weit über eine simple Religionskritik hinaus geht, der hier praktiziert wurde und mit der Annexion verschwunden ist", so Manfred Flügge. Er will seine umfangreiche Untersuchung nicht als Sachbuch, sondern als Zeitroman verstanden wissen, als historische Erzählung, die mit zahlreichen Quellen belegt ist und viele neue Erkenntnisse zutage bringt.
Aufbau Verlag
Hitlers "Wienlüge"
Zum Beispiel wenn es um Hitlers Verhältnis zu Wien geht. Denn der Anschluss sei keineswegs eine Vergeltung für dessen unrühmliche Wiener Jugendjahre gewesen, so der Autor. "Der junge Hitler, der 1913 hier in Wien lebte, war kein Antisemit. Er hing von Wohlfahrtseinrichtungen ab, die von Juden geführt wurden, das wusste er. Die Käufer seiner Bilder waren mehrheitlich Juden, auch das wusste er. Und er war ein glühender Verehrer von Karl May, einem ausgewiesenen Pazifisten."
Erst später, als Hitler 1919 in die Politik ging und das Kernthema der Völkischen, den Antisemitismus, bediente, wurde er zum radikalen Judenfeind. Auch, weil er nur in dieser Radikalität politisch punkten konnte, so Flügge: "Subjektiv hatte Hitler mit Wien keine Rechnung offen, er wollte und musste keine Rache an der Stadt nehmen. Ich nenne das Hitlers Wienlüge."
Inszenierungen als politische Wagner-Opern
Sehr wohl aber habe das künstlerische Wien Hitlers Ästhetik nachhaltig geprägt. "Wagners Opern wurden, vor allem Dank Gustav Mahler, in Wien des Jahres 1913 auf dem fortgeschrittensten Stand auf die Bühne gebracht. Das prägte ihn und später als Politiker übertrug er die ästhetischen Prinzipien auf seine Reden. Und er war selbst verwundert, wie wirksam das war." Die Hitler-Inszenierungen seien daher als seine persönlichen Wagner-Opern zu bezeichnen, so der Autor.
Akribische Recherche, ausführliche Seitenpfade
Nicht weniger akribisch recherchiert sind die essayistischen Kapitel über Egon Friedell, Karl Kraus oder Franz Werfel. Sigmund Freuds Familien- und Fluchtgeschichte zieht sich dazwischen als roter Faden durch die gesamte Erzählung, die Manfred Flügge mit "Wien 1938. Stadt ohne Seele" präsentiert.
Es ist ein lebendiger Wechsel der Perspektiven und Textsorten, mit zahlreichen Rückblenden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Eine ausufernde Erzählung, die von ihrer Leserschaft einen langen Atem fordert, sich immer wieder in Details verliert, um dann doch wieder, mit spannenden neuen Fakten beladen, Fahrt aufzunehmen.
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Manfred Flügge, "Wien 1938 - Stadt ohne Seele", Aufbau Verlag