Mahnmal für die Spiegelgrundopfer, bestehend aus 772 Licht-Stelen

APA/HERBERT PFARRHOFER

Journal Panorama

Der lange Schatten der NS-Medizin

Ärzte und Ärztinnen spielten im sogenannten "Dritten Reich" eine wichtige Rolle. Viele österreichische Ärzte waren glühende Nationalsozialisten, einige wurden selbst zu Mittätern. Diesem Thema widmete sich eine internationale Tagung in Wien, veranstaltet vom Institut für Zeitgeschichte und der Medizinischen Universität Wien.

Vor 80 Jahren schloss sich Österreich dem Deutschen Reich an. Damit wurde eine sozialdarwinistisch-rassistische Ideologie zur Staatsdoktrin erhoben. Um dieser die nötige "wissenschaftliche Legitimation" zu verleihen, griffen die Nationalsozialisten unter anderem auf eine Berufsgruppe zurück: die Mediziner.

"Der Nationalsozialismus hat ein Gesellschaftsmodell auf einer biologistischen Grundlage errichtet", erklärt der Medizinhistoriker Herwig Czech, der dazu am Josephinum, dem Institut für Geschichte der Medizinischen Universität Wien, forscht: "In diesem Zusammenhang hat man Ärzten eine stark überhöhte Rolle angeboten. In gewisser Weise wurden sie quasi zu Nachfolgern der Priester und zu Gesundheitsführern des deutschen Volkes hochstilisiert."

"Medizinische Forschung in unfassbarer Weise und das Euthanasie-Programm waren die Vorlage für den Holocaust."

Der Großteil der österreichischen Ärzte und Ärztinnen fühlte sich in dieser privilegierten Position wohl, traten doch mehr als 60 Prozent von ihnen der NSDAP und acht Prozent der SS bei. In keinem anderen Berufsbereich fanden sich mehr Anhänger. Diesbezüglich dürfe man auch nicht vergessen, dass vor 1938 viele Juden und Jüdinnen als Mediziner tätig gewesen waren. "Da spielte sicher auch die Konkurrenz und der Konkurrenzantisemitismus eine große Rolle", meint Czech.

Altes SW-Foto aus dem Jahr 1938. Im Hörsaal hängen Hakenkreuze, die Studenten heben ihre Hände zum Hitlergruß

Semesterbeginn an der Wiener Universität Antrittsvorlesung des neuen Dekans der medizinischen Fakultät, Eduard Pernkopf, im April 1938.

Österreichische Nationalbibliothek, http://data.onb.ac.at/rec/baa12851777

Schulmedizin als Schimpfwort

Jüdische und politisch andersdenkende Mediziner und Medizinerinnen wurden vertrieben oder verfolgt. Somit konnte sich die NS-Ideologie nicht nur im Großteil der verbliebenen medizinischen Köpfe sondern auch in deren Behandlungsmethoden etablieren. "Insgesamt ließ sich eine Verschiebung von der Sorge um individuelle Patienten auf das Volksganze beobachten", erklärt Medizinhistoriker Czech, "dabei wurde die Vorbeugung ins Zentrum gerückt. Man verfolgte die Idee, dass man das Volk auf dem Weg der Erbpflege oder Rassenhygiene von Krankheiten, Schädlingen und negativen Einflüssen reinigen könnte".

Die Nationalsozialisten wollten sich auch bewusst von der empirisch-orientierten Medizin, die zuvor von vielen jüdischen Ärzten betrieben worden war, abgrenzen. Die Bezeichnung "Schulmedizin" galt geradezu als Schimpfwort. Dieser versuchte man "eine volksverbundene, germanische Medizin entgegenzustellen. Trotzdem muss man sagen, dass die Medizin im Dritten Reich im Kern dem universitären Modell verbunden blieb", so Czech. Und dort fanden sich auch zahlreiche Unterstützer. Speziell in der Psychiatrie sowie Neurologie. Denn Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen und Langzeitpatienten in psychiatrischen Pflegeanstalten galten damals als lebensunwert.

Tötungen, Misshandlungen, Vernachlässigung

"Medizinische Forschung in unfassbarer Weise und letztlich das Euthanasie-Programm waren die Vorlage für den Holocaust. Die Vergasungen haben an psychisch Kranken begonnen", sagt der Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Georg Psota. Den Rahmen dafür boten die sogenannte Kindereuthanasie in der Wiener Nervenheilanstalt "Am Spiegelgrund" und die Aktion T4. Im Zuge dieser Aktion wurden im Deutschen Reich mehr als 70.000 Menschen umgebracht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hörten die Tötungsaktionen zwar auf, das Personal an der Anstalt "Am Spiegelgrund" – die wieder zu einem Teil der Klinik "Am Steinhof" wurde – blieb aber dasselbe. Das gleiche galt für ihr Gedankengut. Es kam zu kollektiven Sedierungen der Kinder, indem Beruhigungsmittel ins Essen gemischt wurden. Zudem wurden in großem Maße physische Freiheitsbeschränkungen in Form von Netzbetten, Zwangsjacken und anderen körperlichen Fixierungen eingesetzt. "All diese Maßnahmen hatten primär den Zweck, im Stationsalltag störendes Verhalten zu regulieren und die Pflegearbeit zu vereinfachen", schildert die wissenschaftliche Geschäftsführerin am Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Hemma Mayrhofer.

Diese katastrophalen Zustände hielten bis in die 1980er Jahre an. Als die Vernachlässigungen publik wurden, erfolgte ein öffentlicher Aufschrei. Erst dadurch sei es zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Umdenken gekommen, meint Hemma Mayrhofer, die für eine Studie etwa 100 Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und ehemaligen Mitarbeitern geführt hat.

Noch viel aufzuarbeiten

Dass Ärzte, die zuvor bedeutende Funktionen in der menschenverachtenden Maschinerie des Nationalsozialismus inne gehabt hatten, nach dem Ende des sogenannten Dritten Reichs einfach weiterpraktizieren durften, war kein Einzelfall – vielmehr eher die Regel. Die betroffenen Mediziner halfen sich gegenseitig. Die Historikerin Margit Reiter vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, verweist hier etwa auf den Konzentrationslager-Arzt Sigbert Ramsauer: "Bereits während seiner Haft setzten sich für den offenbar bestens vernetzten Ramsauer mehrere ÖVP-Politiker, der VdU-Abgeordnete Helfried Pfeifer sowie seine prominenten Arztkollegen Leopold Schönbauer und Burghard Breitner ein. Auch der Salzburger Erzbischof Rohracher intervenierte für ihn und rechtfertigte dabei sogar zwei nachgewiesene Fälle von Euthanasie als ‚menschenfreundliche Aktion und Erlösung‘. Diese Interventionen waren offensichtlich erfolgreich, denn 1954 wurde Ramsauer aus medizinischen Gründen, wie es hieß, begnadigt." Sigbert Ramsauer stieg später zum Chefarzt des Landeskrankenhauses Klagenfurt auf und konnte anschließend unbehelligt bis ins hohe Alter in seiner eigenen Praxis arbeiten.

Erst allmählich wird ersichtlich, wie viele Mediziner und Medizinerinnen Teil des nationalsozialistischen Systems waren. Viele von ihnen haben auch aus Karrieregründen mitgespielt. Hier könnte man den Kinderarzt und Heilpädagogen Hans Asperger, nach dem auch eine spezielle Form des Autismus benannt ist, als Exempel heranziehen. Hans Asperger war während der NS-Zeit an der Wiener Universitätskinderklinik tätig. Dort soll er sich sehr für seine Pateinten und Patientinnen engagiert haben. Allerdings nur für jene, für die "Hoffnung auf Heilung" bestand. Andere überwies er auch in die Anstalt "Am Spiegelgrund". 80 Jahre nach dem sogenannten Anschluss gebe es also noch viel aufzuarbeiten, betont der Medizinhistoriker Herwig Czech.

Text: Daphne Hruby

Ausstellungstipp:

"Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945", 14. März bis 6. Oktober 2018, Josephinum

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