BUNDESDENKMALAMT / ABTEILUNG FÜR TIROL
1943
Südtiroler Siedlungen
Nahezu in der gesamten "Ostmark", insbesondere aber in Vorarlberg und Tirol entstanden ab Ende 1939 sogenannte "Südtiroler Siedlungen". In tausenden, eilends errichteten Wohnungen sollten die "Optanten", also jene Menschen, die sich in Folge des Hitler-Mussolini-Abkommens zur Auswanderung aus Südtirol entschlossen hatten, angesiedelt werden.
17. September 2018, 09:07
Sondermaßnahme S
1943
Architektur: Koller, Taeschner, Theiss & Jaksch, u.a.
Adresse: 6175 Kematen in Tirol, u.a.
Als am 31. Dezember 1939 die Wahllokale um 24:00 Uhr schlossen, hatten 86,6 Prozent der Südtiroler Männer - Frauen waren nicht wahlberechtigt - in einem erzwungenen Plebiszit für die sogenannte "Option", also die Auswanderung ins Deutsche Reich gestimmt.
Von den rund 216.000 "Optanten" verließen bei dieser "völkischen Flurbereinigung", wie es im zynischen Nazi-Jargon hieß, dann aber nur rund 75.000 tatsächlich das Land. Die Hälfte von ihnen wanderte bereits 1940 aus, bevor die Umsiedlung ins Stocken geriet und 1943 kriegsbedingt zum Erliegen kam.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Im fernen Burgenland, in der Steiermark, in Salzburg und Oberösterreich, aber insbesondere in Nordtirol und Vorarlberg wurde im Rahmen der "Sondermaßnahme S" ab Ende 1939 sukzessive mit dem Bau kriegswichtig eingestufter "Südtiroler Siedlungen" für die Umsiedler begonnen.
Nicht selten kamen dabei Zwangsarbeiter zum Einsatz, so etwa in Kematen westlich von Innsbruck, wo Polizeiprotokolle von 100 französischen Kriegsgefangenen beim Bau der Südtiroler Siedlung berichten, wie die Innsbrucker Historikerin Sabine Pitscheider recherchiert hat.
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Wenngleich für damalige Verhältnisse überaus komfortabel und modern, wiesen die Wohnungen und Bauten kriegsbedingt jedoch oft erhebliche Mängel auf. So waren etwa Installationen häufig nur unzureichend ausgeführt und Badewannen der Kriegswirtschaft zum Opfer gefallen. Zum Teil musste auch auf Infrastrukturbauten, wie Schulgebäude oder befestigte Straßen, verzichtet werden.
Wie die Kunsthistorikerin Michaela Frick vom Landeskonservatorat für Tirol hinweist, stellen die, häufig im ländlichen Umfeld und in der Umgebung von Industrie- und Rüstungsbetrieben realisierten Südtiroler Siedlungen, "eine Sonderform des sozialen Wohnbaues dar", die städtebaulich wie architektonisch von der "Blut und Boden"-Ideologie geprägt war und "deren Vorbilder in Werksiedlungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu suchen sind."
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Besonders in Nordtirol zeigen die standardisierten, üblicherweise zwei- bis dreigeschossig ausgeführten Bauten der Südtiroler Siedlungen aber "typische Merkmale der am Heimatstil orientierten pseudo-tirolerischen Siedlungsarchitektur der NS-Zeit", wie verzierte Erker, Lauben, Außentreppen, verschalte Holzbalkone oder, wie in der Südtiroler Siedlung in Reutte erhaltene, Wandbilder mit Genreszenen bäuerlicher Arbeitsidyllen, NS-Mythologie oder Trachtenpärchen beim Volkstanz.
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Ob es sich bei den Südtiroler Siedlungen um schützenswerte Baudenkmäler handle, darüber entbrannte in Tirol vor rund zehn Jahren eine hitzige Debatte, die mittlerweile zu einem Ende gekommen ist. Von den insgesamt 43 Südtiroler Siedlungen in Nordtirol stehen heute aber nur das Bauensemble der Siedlung Kematen und die Hälfte der Siedlung Reutte unter Denkmalschutz.
Gestaltung: Roman Tschiedl
Service
Bundesdenkmalamt Abteilung Tirol
Helmut Alexander, Stefan Lechner, Adolf Leidlmair, "Heimatlos: die Umsiedlung der Südtiroler." Deuticke, 1993
Sabine Pitscheider, "Kematen in Tirol in der NS-Zeit. Vom Bauerndorf zur Industriegemeinde." StudienVerlag, 2015
Helmut Weihsmann, "Bauen unterm Hakenkreuz: Architektur des Untergangs." Promedia, 1998