Wohnhaus auf Stelzen

ORF/ANNA SOUCEK

1966

Südstadt, Niederösterreich

"Das Projekt für die Garten- und Parkstadt im südlichen Wiener Umland beruhte auf der Weltoffenheit, dem Kenntnisreichtum und der gestalterischen Freiheit der drei Architekten in einer Zeit des Aufbruchs und großer Möglichkeiten. Die Südstadt ist ein städtebaulicher Geniestreich", urteilt der Historiker Georg Rigele über die Südstadt, eine zwischen 1960 und 1975 errichtete Planstadt im Süden von Wien. Bekannt ist vor allem das Bundessportzentrum Südstadt – die Wohnanlage wird hingegen oft übersehen und ihre Vorzüge sind außerhalb der Südstadt kaum bekannt.

Modernistische Gartenstadt im Süden Wiens

Anna Soucek

Einen guten Blick auf die Südstadt, die ein Ortsteil von Maria Enzersdorf bei Mödling ist, hat man vom obersten Stockwerk des Verwaltungszentrums der EVN. Dieses steht als solitärer Baukörper parallel Triester Straße im Süden von Wien, zwischen einer weitläufigen Wiese und einem ebenfalls großzügig bemessen Parkplatz. Es ist rund 140 Meter lang und hat eine glatte, silbrige Fassade aus Glas und Sichtbeton – ein elegantes, klar strukturiertes, weithin sichtbares und dennoch unaufdringliches Bauwerk, das dem niederösterreichischen Energieversorger seit seiner Eröffnung 1963 als Heimstätte dient.

Niogas-Gebäude, 1966

Niogas-Gebäude, 1966

ÖNB/VGA

Im Inneren ist das Stiegenhaus mit den hölzernen Handläufen gut erhalten. Original sind auch die Marmorverkleidungen der Stützen, die auf Wunsch der Chefs angebracht wurden um den – von den Architekten Franz Kiener, Gustav Peichl und Wilhelm Hubatsch bevorzugten - rohen Beton zu veredeln.

Stiegenhaus

Stiegenhaus im heutigen EVN-Gebäude

ORF/ANNA SOUCEK

Umgebaut werden derzeit die Büros des EVN-Hauptquartiers – kleine Einzelzimmer werden zu Großraumbereichen zusammengelegt. Was übrigens schon die Planer in den 1960er Jahren vorgeschlagen hatten. "Hier ist einer der letzten Gänge, die noch nicht umgebaut worden sind", erzählt Heike Maier-Rieper, "Das war immer die Vorstandsetage, wo sehr viel hinter verschlossenen Türen stattgefunden hat. Genau das versucht man zu verändern. Wenn man sich den neuen Vorstandsbereich ansieht: Der ist sehr transparent und besteht aus vielen Glasflächen. Man hat einen gewissen Durchblick."

Bürogang

Bürogang im heutigen EVN-Gebäude

ORF/ANNA SOUCEK

Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Heike Maier-Rieper betreut die Gegenwartskunst-Sammlung der EVN, sie bietet Ausstellungsrundgänge für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an, verantwortet Ankäufe und bespielt das gesamte Gebäude – und dabei vor allem die von vielen Menschen zugänglichen Orte – mit zeitgenössischer Kunst. Gemeinsam mit dem EVN-Historiker Georg Rigele hat sie anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Hauptquartiers ein Buch über die Südstadt herausgegeben, in dem die die städtebauliche Bedeutung des visionären Großprojekts "Gartenstadt Süd" in einen internationalen Zusammenhang gestellt und die Entstehungsgeschichte beschrieben wird.

Vom niederösterreichischen Energieversorger NEWAG-NIOGAS, dem Vorgänger der EVN Aktiengesellschaft, wurde die Architektengemeinschaft Kiener/Peichl/Hubatsch auch mit dem Masterplan für das Wohnareal der Südstadt beauftragt. Eine auf dem Reißbrett entworfene Gartenstadt für die gehobene Mittelschicht, mit stark geförderten Eigentumswohnungen für die Mitarbeiter des Unternehmens – jedoch keine reine Werksstadt – sollte die Südstadt sein. Und zugleich der Beleg, dass auch das schwarze Niederösterreich Wohnbau für Massen hinbekommen konnte, nicht nur das SPÖ-regierte Wien. "Mit der zukünftigen Südstadt wollte die von der konservativen ÖVP geführte Landesregierung der Bevölkerung beweisen, dass sie im Wohnungsbau und in der öffentlichen Investitionstätigkeit eine eigenständige Alternative zu bieten hatte", so Georg Rigele.

Wohnhäuser in der Südstadt, 1966

Wohnhäuser in der Südstadt, 1966

ÖNB/VGA

Vorangetrieben wurde das Großprojekt vom einflussreichen ÖVP-Finanzlandesrat und stellvertretenden Landeshauptmann Niederösterreichs Viktor Müllner, der den Landesgesellschaften NEWAG und NIOGAS auch als Generaldirektor vorstand und – wie 1966 aufflog – das Unternehmen durch schwere Korruption beinahe in den Ruin trieb. Etwa die Hälfte der Wohnbauten, darunter Bungalows und Stelzenhäuser, war zu diesem Zeitpunkt fertig – bei den nachfolgenden Häusern musste, nicht zuletzt als Konsequenz des Müllner-Skandals nachverdichtet werden, und es entstanden mehrgeschossige Wohnblocks.

Maximilian Urban, der im vierten Stock des EVN-Gebäudes seinen Arbeitsplatz als Projektentwickler hat, hätte gerne einen Bungalow erworben, jedoch seien diese Haustypen extrem beliebt und auf dem Markt kaum zu haben. Er hat bis zur ersten Volksschulklasse in Wien gelebt und ist dann, 1974, mit seinen Eltern in die Südstadt gezogen. Die Großeltern sind später nachgekommen. Seine Erinnerungen an die frisch gebaute Musterstadt klingen idyllisch, auf dem Aushub der Baustelle haben die Kinder der Südstadt gespielt, mit dem Fahrrad sei alles schnell erreichbar gewesen. Die Autos mussten außerhalb des Gebiets geparkt werden, wodurch sich Kinder hier frei bewegen konnten.

  • Gang im Einkaufszentrum

    Einkaufszentrum

    ORF/MIRELA JASIC

  • Dächer

    Sportzentrum

    ORF/MIRELA JASIC

  • Reihenhäuser

    Reihenhäuser

    ORF/ANNA SOUCEK

  • Blick vom EVN-Gebäude auf die Wohnäuser

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Innerhalb von zehn Jahren ist die Südstadt gebaut und besiedelt worden, und alle sind damals im gleichen Alter gewesen, die Elterngeneration ebenso wie der Nachwuchs. Die "Südstädter Kinder" haben zusammengehalten, berichtet Maximilian Urban; es sei – im positiven Sinne – ein Ghetto gewesen, ein von der Umgebung abgeschlossenes, in sich funktionierendes Gebiet, wo man einander kannte und bis heute in Kontakt geblieben ist. Es gibt großzügige Grünräume, Privatgärten ebenso wie Park-Anlagen. Auf Bildern aus der Bauzeit sind noch keine Pflanzen zu sehen, es ist eine kahle und exponierte Baulandschaft. Heute sieht es hier anders aus: Die niedrigen Wohnhäuser verschwinden hinter der üppigen Bepflanzung. Die Südstadt ist nun wirklich jene "Gartenstadt" geworden, als die sie von ihren Planern konzipiert worden ist.

Service

evn sammlung

"Südstadt, Maria Enzersdorf, Österreich. Wohnbau und Bürokultur 1963–2013", Sonderzahl Verlag, Wien 2013.

"Franz Kiener. Eine Ordnung als Anfang“, Ingrid Holzschuh (Hg.), Park Books, Zürich 2016.

Gestaltung

  • Anna Soucek

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