George Saunders

AFP/CHRIS JACKSON

Romandebüt von George Saunders

"Lincoln im Bardo" - Mit Geisterstimmen zum Booker Prize

Für seine Kurzgeschichten wird George Saunders von Kollegen wie Jonathan Franzen oder Zadie Smith bewundert, 2017 hat er mit 58 sein Romandebüt "Lincoln im Bardo" vorgelegt und damit gleich den Booker Prize gewonnen. Der Titel ist dabei so ungewöhnlich wie das Buch selbst.

Mittagsjournal | 22 05 2018

Wolfgang Popp

Bardo bezeichnet im tibetischen Buddhismus einen Zwischenzustand zwischen Tod und Wiedergeburt, in George Saunders Roman ist es ein Versammlungsort recht illustrer Geister vor ihrer letzten Reise ins Jenseits.

Der Präsident und sein toter Sohn

Dort hält sich auch die Seele des mit gerade einmal elf Jahren an Typhus verstorbenen Willie Lincoln auf. George Saunders: "Das Buch basiert auf einer Geschichte, die ich vor Jahren gehört habe: Während seiner Amtszeit ist Lincolns Sohn gestorben und die Zeitungen schrieben damals, dass der Präsident so verzweifelt war, dass er nachts auf den Friedhof gefahren ist und dort, in der Krypta, den Leichnam seines Sohnes im Arm gehalten haben soll."

Der 59-jährige Saunders ist Satiriker, dem es aber nicht an Herzenswärme fehlt, und so lässt er die ergreifende Geschichte von dieser skurrilen Geisterschar berichten, zu der sich auch der kleine Willie gesellt.

Geister und Geschichte

Die Stimmen berichten im raschen Wechsel, bis sie abrupt einem vergleichsweise nüchternen Tonfall weichen, weil Saunders plötzlich aus Geschichtsbüchern und historischen Quellen zitiert.

"Diese historisch authentischen Abschnitte stellen ein wunderbares Gegengewicht zu dem Chor der Geister dar", sagt der Autor. "Ich habe sie in kurze Absätze geteilt und die wie im Hip-Hop gesampelt. Wenn jetzt an einer Stelle dem Leser durch diese seltsamen Geister der Boden unter den Füßen weggezogen wird, kommt gleich darauf zum Beispiel ein Zitat der berühmten Lincoln-Biografin Doris Kearns Goodwin und gibt dem Leser wieder Halt."

Buchcover

LUCHTERHAND

Fake Historic News

Doch Vorsicht! Nicht hinter jedem von Saunders akribisch genannten Historiker oder Zeitzeugen verbirgt sich eine reale Person. George Saunders: "Einmal hätte ich ein besonderes Detail gebraucht, und da habe ich einfach eine historische Quelle erfunden. Anfangs sind sie mir zu literarisch geraten, und ich habe sie dann stilistisch herunterbrechen müssen, damit sie nicht auffallen."

Der literarische Sprinter auf der Langstrecke

Mit viel Chuzpe und viel List ist "Lincoln im Bardo" geschrieben, fast so, als habe die Angst und das Unbehagen vor dem langen Roman, die Fantasie des Kurzgeschichtenautors George Saunders beflügelt.

Und so ganz trügt der Schein nicht. George Saunders: "Ich habe dieser Geschichte wirklich lange widerstanden, weil ich mich dagegen wehrte, einen Roman zu schreiben. Als überzeugter Kurzgeschichtenautor waren Romanciers für mich Menschen, die zu keinem Ende finden. Außerdem habe ich bemerkt, dass auch bei mir, wann immer ich die Möglichkeit habe, mich auszudehnen, die Energie des Textes schnell nachlässt. Das Bild für mein Schreiben war immer eine dieser kleinen Aufziehfiguren, die man auf den Boden stellt und die gleich darauf unter der Couch verschwinden und das war’s dann auch schon wieder."

Dieses Mal hat George Saunders dutzende Aufziehfiguren ins Rennen geschickt, was "Lincoln im Bardo" zu einem der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre macht. Ein Experiment, auf das man sich einlassen muss, dann schwelgt man aber im Chor der toten Seelen und im Spiel Saunders mit den Stimmen der Geschichte.

Service

George Saunders, "Lincoln im Bardo", Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert, Luchterhand
Originaltitel: "Lincoln in the Bardo"

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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