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1918 - Die "österreichische" Revolution

Selbst ein derart offensichtlicher Einschnitt wie das Ende der Monarchie im Habsburgerreich, verbunden mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, signalisierte keinen völligen Neubeginn. Zu stark waren jahrhundertealte Traditionen in den verschiedenen Bevölkerungsschichten verankert und hatten das tägliche Leben auf den verschiedensten Ebenen geprägt.

Während der letzte Kaiser, Karl, nach intensiven Verhandlungen am 11. November 1918 seinen "Verzicht auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften" schriftlich erklärte - nachdem bis zuletzt eine mögliche Fortsetzung der Monarchie diskutiert worden war -, herrschte im Lande bittere Not.

 	Ausrufung der Ersten Republik

Wien, vor dem Parlament am 12. November 1918 - Ausrufung der Ersten Republik.

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Mit diesen sozialen Problemen musste jedoch auch die junge Republik rechnen, die am 12. November 1918 von jenen Abgeordneten legitimiert wurde, die 1911 in den (überwiegend) deutschsprachigen Wahlkreisen zu Abgeordneten im cisleithanischen Reichsrat gewählt worden waren. Diese - 111 Deutschnationale, 70 Christlichsoziale und 39 Sozialdemokraten - hatten sich am 21. Oktober 1918, parallel zu analogen Ereignissen in Prag (Praha), Agram (Zagreb) und Laibach (Ljubljana), im niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse in Wien als "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" konstituiert. Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung die von Karl Renner ausgearbeitete, den "Anschluss" an Deutschland proklamierende "provisorische Verfassung" ("Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt") angenommen. Heinrich Lammasch - der letzte kaiserliche Ministerpräsident der österreichischen Reichshälfte - übergab Renner am 31. Oktober die Regierungsgewalt für das Staatsgebiet Deutschösterreichs.

Demonstration vor dem Parlament 1918

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Demonstration vor dem Parlament 1918

Der "Anschluss" an ein von einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Koalition geführtes Deutschland schien ihnen wünschenswert zu sein. Deutschnationale Kräfte traten ebenfalls für einen unbedingten Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich bzw. der (am 9. November 1918 ausgerufenen) Deutschen Republik ein.

So ist erklärbar, dass ein deutschnationaler Abgeordneter, Franz Dinghofer, am 12. November 1918 um drei Uhr Nachmittag als Präsident der provisorischen Nationalversammlung die Republik ausrief. Die neue Nationalfahne in Rot-Weiß-Rot vermittelte Kontinuität, da diese Farben bereits seit dem 13. Jahrhundert dem Herzogtum Österreich zugeschrieben wurden. Rund 150.000 Menschen waren seit Mittag vor dem Parlament vorbeigezogen, doch auch bewaffnete Verbände verschiedener politischer Richtungen waren aufmarschiert. Während der Rede Dinghofers schnitten plötzlich gerade erst organisierte Rotgardisten den weißen Teil aus der Fahne heraus und hissten die aneinander geknüpften roten Reste. Später stürmten Soldaten das Parlament, um ihre Resolution zur Gründung einer sozialistischen Republik zu überreichen. In der nachfolgenden Schießerei wurden angeblich zwei Personen getötet, fünf bis zehn Personen schwer verletzt, 32 leicht - unter ihnen viele Frauen und Jugendliche. Gewalt sollte auch weiterhin auftreten.

Die Ereignisse rund um die Ausrufung der Republik gaben jene revolutionäre Stimmung wieder, die die Demokratie jener Tage begleitete und die die Erste Republik weiterhin, wenn auch in wesentlich abgeschwächter Form, begleiten sollte. Während die Sozialdemokratie unter Victor Adler und nach seinem Tod kurz vor der Ausrufung der Republik unter Otto Bauer bemüht war, die revolutionären Strömungen in demokratische Bahnen zu leiten, interpretierten Christlichsoziale und Deutschnationale die Roten Garden und die revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte als Instrumente des "Roten Terrors" und eines möglichen "Putsches von links".

"Die neugewählten Nationalräte", 1919

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"Die neugewählten Nationalräte", 1919

Das Ergebnis der ersten Wahlen zum Nationalrat vom 16. Februar 1919 zeigte die immer deutlicher werdende politische Lagerbildung in der jungen Republik: 72 Sozialdemokraten, 69 Christlichsoziale, 26 Deutschnationale verschiedener Prägung, ein Tscheche, ein bürgerlicher Demokrat und ein Zionist. Staatskanzler Renner bildete seine zweite Regierung, eine Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen.

Trotz der formal funktionierenden Arbeiten an einer gemeinsamen Verfassung, und trotz der vielschichtigen gesetzgeberischen Funktionen der konstituierenden Nationalversammlung, war das Misstrauen ständig im Steigen begriffen. Vor allem die Angst vor einer "bolschewistischen" Revolution wie in Russland 1917 motivierte die Zusammenarbeit.

Sitzung der ersten Nationalversammlung Österreichs im Wiener Landhaus:  	Gruppenbild der Abgeordneten, u.a. Franz Dinghofer.

Sitzung der ersten Nationalversammlung Österreichs im Wiener Landhaus: Gruppenbild der Abgeordneten, u.a. Franz Dinghofer.

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Die Koalition hielt nur bis 1920 den vielfältigen Pressionen stand und führte auf dieser Ebene sogar eine Reihe sozialpolitisch wichtiger Reformen durch (achtstündiger Arbeitstag für Fabrikarbeiter, d. h. 48 Wochenstunden, für Frauen und Jugendliche nur 44 Wochenstunden; Urlaubsregelung; Betriebsrätegesetz; Arbeitslosenversicherung). Doch bald war das Feuer der "österreichischen" Revolution erloschen, und die schweren wirtschaftlichen und sozialen Krisen und das Verbot des "Anschlusses" an Deutschland durch die Pariser Friedensverträge belasteten die Erste Republik in extremer Weise.

Text: Oliver Rathkolb, Zeithistoriker an der Universität Wien

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