KLETT-COTTA
Roman
"Der Wilde" - Arriagas Reflexion über Rache
Ob als Drehbuchautor oder Schriftsteller - Guillermo Arriaga erzählt keine simplen Geschichten, sondern baut stets komplexe, über mehrere Ebenen verwobene Erzählkunstwerke mit zahlreichen Rück- und Vorausblenden. Nicht anders in seinem jüngsten Roman "Der Wilde".
29. November 2018, 02:00
Morgenjournal | 29 10 2018
Mit einem Schlag verwandelt sich Juan Guillermos behütetes Leben in eine teuflische Spirale aus Blut, Tod und Rache. Am Tag der Mondlandung, dem 21. Juli 1969, wird sein älterer Bruder Carlos von einer Gruppe ultrakatholischer Fanatiker ermordet. Kurz darauf erleidet die verzweifelte Großmutter einen Herzinfarkt, drei Jahre später rasen die Eltern in ihrer Trauer mit dem Auto in den Tod. Der 17-Jährige bleibt allein zurück und verschreibt sein Leben fortan der Rache.
"In einem Land ohne funktionierendes Rechtssystem bleibt einem oft als einzige Alternative die Rache"
Guillermo Arriaga
"Vielmehr als die Rache selbst steht die Reflexion darüber im Zentrum meines Romans", sagt der mexikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Guillermo Arriaga, der sein eigenes Wohnviertel, seine Freunde und Nachbarschaft, aber auch die zahlreichen Begegnungen mit Gewalt in seiner Jugend in diesen Roman einfließen ließ. "Gerade in einem Land ohne funktionierendes Rechtssystem wie Mexiko bleibt einem oft als einzige Alternative die Rache", so Arriaga, der unter anderem die preisgekrönten Drehbücher für "21 Gramm" oder "Amores Perros" schrieb.
Kunstvolles Erzählstückwerk
Rasant wechselt Arriaga zwischen Rück- und Vorausblenden, Schauplätzen und Textsorten, um die Hintergründe der Katastrophe Stück für Stück zu offenbaren. Fast in jedem Absatz lässt er seinen Ich-Erzähler eine neue Erinnerung hervorkramen: an die ersten erotischen Abenteuer als Neunjähriger und den damit einhergehenden Rauswurf aus der Eliteschule, die seine Eltern kaum bezahlen konnten; an die lukrativen Geschäfte seines älteren Bruders mit LSD und Morphium, aber auch an dessen Belesenheit und die große Diskrepanz zwischen liebevollem, freigeistigem Elternhaus und restriktiver, korrupter Gesellschaft im Mexiko der 60er und 70er Jahre.
Zwischen die Erinnerungs-Bruchstücke, die manchmal als Dialoge, Litaneien oder Auflistungen notiert sind, mischen sich Mythen und Legenden aus indigenen Kulturen und, zunächst völlig entkoppelt, die Abenteuergeschichte des Wolfsjägers Amaruq im Norden Kanadas. Erst allmählich, dafür umso sorgfältiger und effektvoller, führt Arriaga die Erzählfäden zusammen.
Da wird ein knapper Steckbrief ein paar Seiten weiter durch wenige Ergänzungen zur fesselnden Biografie, ein unbedeutender Nebensatz erst viele Kapitel später zum Ausgangspunkt einer packenden Erzählung, und ein vor dem Einschläfern geretteter Wolfshund gleichzeitig zum lebensgefährlichen Mitbewohner und zum Lebensretter des Protagonisten.
Die Macht der Liebe über den Tod
Arriaga stellt seinem jugendlichen Ich-Erzähler aber noch eine Reihe weiterer Rettungsanker zur Seite. Mit Jimi Hendrix im Ohr, mit den Werken von Shakespeare, Borges und Faulkner im Visier, und mit der Unterstützung der ebenfalls vom Leben gezeichneten Chelo hantelt er sich zurück ins Leben.
Die einzigen Auswege aus Gewalt, Tod und Verzweiflung, im Leben wie im Roman, seien für ihn Liebe und Freundschaft, ist Guillermo Arriaga überzeugt - eine Botschaft, die leicht zur kitschigen Plattitüde verkommen kann. In "Der Wilde" allerdings wird sie zur glaubwürdigen, ja einzig nachvollziehbaren Erkenntnis eines vom Schicksal gebeutelten Protagonisten, dessen Geschichte trotz der rund 750 Romanseiten um keinen Halbsatz zu lang erscheint.
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Guillermo Arriaga, "Der Wilde", Roman, Klett-Cotta
Originaltitel: "El Salvaje"