Karikatur von Otto Schenk

REINHILDE BECKER

"Lyrik ist das, was mir das Beten ersetzt"

Otto Schenk liest Lieblingsgedichte

Für die Ö1-Sendereihe "Du holde Kunst" hat Publikumsliebling Otto Schenk Gedichte ausgewählt, sie interpretiert und mit Musikstücken seiner Wahl eine einmalige Zusammenstellung geschaffen.

"Lyrik ist ein falscher Ausdruck, man müsste es Sagung nennen. Es gibt leider kein wirkliches Wort dafür: Worte umschreiben, aber finden nie den richtigen Weg. Den richtigen Weg findet ein Gedicht. Ein großes Gedicht sagt etwas so, wie‘s nicht anders sein kann, wie man‘s nicht anders sagen kann. Das glaubt man bei jedem guten Gedicht, und danach suche ich die Gedichte aus", so Otto Schenk in einem Interview, das Kurt Reissnegger im Mai 2016 führte. Diesem entstammen auch die nachstehenden Zitate.

Lyrik ist das, was mir das Beten ersetzt

CD-Cover mit Otto-Schenk-Karikatur

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ORF-CD 810
1 Audio-CD & Download
Best.nr. 2017843
Spieldauer: 42:21

Trackliste:

1. Bach: Toccata für Orgel in d-Moll BWV 565
2. Brecht: Lasst euch nicht verführen!
3. Schubert: Moment musical für Klavier Nr. 5
4. Rilke: Aus dem Stundenbuch
5. Haydn: Klaviertrio in g-Moll Hob. XV/1, 3. Satz
6. Goethe: Prometheus
7. Wagner: Götterdämmerung, 3. Akt, 2. Teil, Orchesterzwischenspiel (Ausschnitt)
8. Hölderlin: An die Parzen
9. Haydn: Streichquartett in d-Moll Hob. III/76, 4. Satz
10. Brecht: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking
11. Schubert: Klavierquintett in A-Dur D 667, 3. Satz, Forellenquintett
12. Kästner: Hamlets Geist
13. J. Strauß: Pizzicato Polka op. 25
14. Morgenstern: Seufzer
15. Morgenstern: Der Hecht
16. J. Strauß: Eljen a Magyar op. 332

"Ich kann nichts vorlesen, von dem ich nicht begeistert bin. Ich muss begeistert sein", sagt Otto Schenk, "dass es mir nur gefällt, genügt nicht. Ein Freund hat mir immer gesagt, die Bücher, die wir lieben, sind von uns selbst geschrieben. Wenn mir ein Dichter etwas sagt, wenn er’s so sagt, wie ich’s am liebsten sagen möchte, dann stimmt der Dichter für mich. Und wenn er mich verführt in Welten, die ich gar nicht zu betreten gewagt habe, mir die Welt eröffnet, mit einem einfachen Satz oder mit einem komplizierten Satz, dann ist er für mich ein großer Dichter."

Bedecke deinen Himmel, Zeus,


Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh’n!
...
Goethe, "Prometheus"

"Das Hineinhorchen in den Menschen und in alles, was um ihn schwingt", ist, so Otto Schenk, das, "was das Leben und seinen Abglanz, das Theater und die Musik, ausmacht". Musik ist für Otto Schenk "ein großes Symbol für Leben und Lebendigkeit". Und wie die Lyrik eröffne auch die Musik einen Zugang zu einer anderen Welt.

Der Formulierung verfallen

Dass Otto Schenk die Reihe seiner Lieblingsgedichte mit einem Gedicht des jungen Bertolt Brecht beginnt, begründet er folgendermaßen: "Ich verfalle einer guten Formulierung, und wenn diese gute, prägnante Formulierung sich an die letzten Dinge wagt, wie zum Beispiel Bertolt Brecht an den Glauben und an die Verzweiflung, nicht glauben zu können, oder die Anweisung, ja nicht zu glauben, und das so formuliert, dass man dem Atheismus geradezu verfällt, dann bin ich davon begeistert, bin der Verführung durch Formulierung und dichterischer Kraft ausgesetzt."

Aus diesem Grund steht für Schenk Goethes "Prometheus" in der Nähe von Brecht: "‘Prometheus‘ könnte fast von Brecht sein. Da hegt er, Goethe, seinen Zweifel. In Goethe schwelt neben aller Frömmigkeit, die er immer gezeigt hat, auch der Protest gegen den ungerechten Gott, der uns im Stich lässt, dort und da."

Wo Rilke auf den Punkt redet


Denn Herr, die großen Städte sind
Verlorene und Aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, dass er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.
...
Rilke, "Das Stunden-Buch"

Aus Rainer Maria Rilkes "Stunden-Buch" hat Otto Schenk einen Ausschnitt aus dem dritten Buch, "Das Buch von der Armut und vom Tode", ausgewählt: "Rilke wird ja zu Unrecht so als parfümierter Dichter geführt, in Damenkreisen oder in Lyrikliebhaberkreisen. Mir gefällt er dort noch mehr, wo er so auf den Punkt redet, wo er sich fast ins Soziale begibt, wo er sich in Gebiete begibt, die man ihm gar nicht zutraut - und trotzdem der Dichter bleibt. Für mich ist er einer der größten Formulierer, das hat er übrigens mit Kästner gemein, Kästner, der auf einem ganz anderen Schiff segelt. Der segelt auf der Phrase, die es möglich macht, etwas zu sagen, so wie uns der Mund gewachsen ist oder wie uns das Hirn gewachsen ist, und auch Goethe kann nicht anders als es so sagen, wie’s ihm am Herzen ist."

"Seufzer" von Christrian Morgenstern


Ein Seufzer lief Schlittschuh
auf nächtlichem Eis
und träumte von Liebe und Freude.
Es war an dem Stadtwall,
und schneeweiß
glänzten die Stadtwallgebäude.

Der Seufzer dacht an ein Maidelein
und blieb erglühend stehen.
Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein –
und er sank –
und ward nimmer gesehen.
...

Erich Kästner und Christian Morgenstern schätzt Otto Schenk seit Jahrzehnten: "Morgenstern hat in den 'Galgenliedern' den Unfug gepachtet, er will den Fug eigentlich lächerlich machen, durch genial gedichteten Unfug. Wenn er den 'Seufzer' lebendig werden lässt, lässt er ihn auch erglühend im Eis versinken. Die Phrase wird bei ihm zur Wirklichkeit, und er verwendet dazu eine ungeheure Poesie, um seinen Blödsinn zu verkaufen, und sein Blödsinn wird dadurch veredelt. Und wenn er den heiligen Anton beschwört, dem, nachdem 500 Fische im Teich verreckt sind, nichts einfällt außer 'Heilig! Heilig! Heilig!', dann sind wir schon wieder beim Prometheus - und dem, dass die Anrufung des höheren Wesens schief geht oder manchmal nicht zum Erfolg führt."

Jeder Witz muss Humor haben

"Witz und Humor sind verwandt, sind absolut verwandt. Wenn der Witz manchmal bösartiger ist als der Humor, darf er den Humor trotzdem nie verlassen, das Areal des Humors", meint Otto Schenk. Sigmund Freud verwies in seiner kleinen Abhandlung "Der Humor" (1927) darauf, dass es "das Über-Ich ist, das im Humor so liebevoll tröstlich zum eingeschüchterten Ich spricht", dass "der Humor nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik (hat), sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes, welche Züge an den beiden anderen Arten des Lustgewinns aus intellektueller Tätigkeit nicht gefunden werden". "Jeder Witz", so Otto Schenk resümierend, "muss deshalb Humor haben, und jeder Humor auch letzten Endes Witz."

Gestaltung

  • Kurt Reissnegger

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