Mond

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All die Nacht über uns

Gerhard Jägers letzter Roman.

Im November 2018 verstarb der Vorarlberger Autor Gerhard Jäger im Alter von 52 Jahren. Sein Tod kam so plötzlich wie sein Zusammenbruch vor elf Jahren, als er - bis dahin beschwerdefrei - bewusstlos zu Boden fiel und als körperlich beeinträchtigter Mensch wieder aufwachte. In den folgenden Jahren konnte er sich nur im Rollstuhl fortbewegen, auch Arme und Hände funktionierten eingeschränkt.

Seinen ersten Roman "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod", der 2016 im Blessing Verlag erschien, hatte er nur diktieren können. Diesen Herbst wurde sein zweiter Roman "All die Nacht über uns" veröffentlicht, der aus auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises geschafft hat.

Gejagt von seinen Erinnerungen, eingesperrt auf diesem Turm, gefangen in seinem Leben.

So sieht es aus, das Profil eines Helden, wenn es nach Gerhard Jäger geht. Bereits im Titel "All die Nacht über uns" legt er die Tonart seines Romans fest: Moll, den Themen Flucht, Vertreibung und innere Heimatlosigkeit angemessen. Im Zentrum der Handlung steht ein junger Mann, der so wie auch die übrigen Figuren, ohne Namen bleibt. Er ist Soldat und in jenen zwölf Stunden, die der Roman umspannt, für die Nachtschicht eingeteilt.

Seine Kollegen setzen ihn gegen 19 Uhr bei einem Wachturm an der Grenze ab. Eigentlich nichts Besonderes. Hätte man dort nicht einen Maschendrahtzaun hochgezogen. Ein drei Meter hohes Metallgeflecht soll Flüchtlinge, die ins Land drängen, abweisen. Doch der Soldat weiß, dass es nicht viel braucht, um so ein Hindernis zu überwinden und sich durch Wälder und Wiesen bis zur nächsten, vermeintlich sicheren Siedlung durchzuschlagen.

Buchumschlag Vollmond mit Wolken

Picus Verlag

Die Macht der Dunkelheit

Da sitzt er nun auf seinem Turm, mit dem Fernglas und seinem Gewehr, und spürt, dass irgendetwas anders ist an diesem Abend. Seine Haut ist dünner als sonst und eine seltsame Angst allgegenwärtig. Jedes Knacksen im Unterholz wird zur Bedrohung, jedes Auffliegen eines Vogels zur Warnung. Ist da jemand? Was würde oder müsste er tun, wenn er einem wehrlosen Flüchtling begegnet und ihm Aug in Aug gegenübersteht?

Mit dem Voranschreiten der Stunden, mit der Müdigkeit und dem beginnenden Regen bedrängt ihn die Finsternis nur umso tückischer. Inzwischen fühlt sich der junge Mann von allen Seiten attackiert: Das Wetterleuchten und die Blitze eines Gewitters sind ein Schlag in die Magengegend, Feuchtigkeit und Kälte kriechen ihm unter die Haut, die Patrouillen mit der Taschenlampe werden zum Spießrutenlauf. Der Soldat, an sich ein erfahrener Staatsdiener, bemerkt, dass er sich schwer abgrenzen kann von der Macht der Dunkelheit, die sein Selbstvertrauen und auch sein Bild von sich und der Welt aus den Angeln hebt.

Sinnlich und poetisch

Zwölf Kapitel hat der Band, jedes von ihnen steht für eine Stunde des Dienstes. Gerhard Jäger zieht uns hinein in einen fast schon magischen Kosmos. Das Psychogramm des Helden, wie es der Autor zeichnet, präsentiert sich atmosphärisch dicht und in einer präzisen, luziden Sprache, die sich ins Expressive hin zuspitzt, ohne im Pathos zu landen.

Gleich drei Handlungsebenen sind in diesem Roman ineinander montiert. Die Verlorenheit des Soldaten trifft auf das Schicksal der Flüchtlinge, die man in einem desolaten Hotel unweit der Grenze einquartiert hat. Die Bewohner des Ortes beäugen die Neuankömmlinge voller Misstrauen, halten Abstand und warten nur darauf, sie eines Fehltritts oder Verbrechens beschuldigen zu können. Die Stimmung gegen die Fremden heizt sich immer weiter auf. Bis sich eine Demonstration formiert und Fackeln durch die Fensterscheiben der Unterkunft fliegen. In die Gegenwart verschränkt ist zudem noch die Erinnerung an jene Monate knapp vor und nach Ende des Zweiten Weltkriegs, da sich breite Flüchtlingsströme durch Europa wälzten.

"All die Nacht über uns" ist ein sinnlicher, poetischer Roman. Er mäandert dahin, springt nach vorne und zurück, operiert mit Leitmotiven und Wiederholungen, mit suggestiven Spiegelungen und Schleifen und starken Bildern.

Herz der Finsternis

Das Buch gibt sich exemplarisch: Die Figuren haben keine Namen, der genaue Schauplatz wird nicht genannt, etliches bleibt in der Andeutung. Weil die Geschichte zur Parabel werden soll über eine Gesellschaft, die humanitäre Grundwerte und Menschenrechte missachtet und so auf einen Abgrund zuläuft. Gerhard Jäger veranschaulicht, was es heißt, auf der Flucht zu sein. "All die Nacht über uns" ist ein Kommentar zu den großen politischen Umwälzungen unserer Tage und zugleich ein beklemmendes Roadmovie: eine literarische Fahrt durch eine Nacht, mitten hinein ins Herz der Finsternis. Von dort wieder heimzufinden, ist gar nicht so einfach. Und so ein Buch lässt sich auch nicht einfach abschütteln und zur Seite legen. Dafür wiegt es zu schwer.

Service

Gerhard Jäger, "All die Nacht über uns", Picus Verlag

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