BELVEDERE WIEN
Betrifft: Geschichte
Die Geschichte des Wiener Nordwestbahnhofs
Als gesellschaftliches, kulturelles und administratives Zentrum der Donaumonarchie war Wien auch der wichtigste Verkehrsknotenpunkt. Das von den sechs Kopfbahnhöfen der Reichshauptstadt ausgehende Schienennetz durchzog sämtliche habsburgischen Kronländer.
19. Mai 2019, 02:00
Der zweitgrößte dieser Bahnhöfe war der Nordwestbahnhof im 20. Bezirk. Die Grundlagen für seine Errichtung wurden erst durch die Donauregulierung 1868 geschaffen.
Aus einem sumpfigen Brachland wurde der größte Infrastruktur-Hub der Stadt.
Schon im darauffolgenden Jahr begann unter der Leitung des Stuttgarter Architekten Wilhelm Sophonias Bäumer der Bau des im Stil eines italienischen Renaissancepalastes gestalteten Bahnhofgebäudes. Die Eröffnung des zu diesem Zeitpunkt noch unfertigen Kopfbahnhofs erfolgte 1872. Bis 1914 wurde das Gelände in mehreren Ausbaustufen erweitert. Nach dem Ende der Monarchie brachen die Fahrgastzahlen an der Nordweststrecke ein. Es folgte die Umwidmung der Bahnhofshalle in ein Veranstaltungszentrum. So beherbergte das Gebäude unter anderem die erste Schihalle der Welt!
ÖNB/RÜBELT
Genutzt wurden die Räumlichkeiten auch für Ausstellungen und politische Kundgebungen. Während des Krieges reaktivierte die Reichsbahn das Gelände. Im April 1945 wurde das Bahnhofsgebäude durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt, 1952 musste es abgetragen werden. Die endgültige Einstellung des Personenverkehrs erfolgte 1959 mit der Eröffnung des Bahnhofes Praterstern.
In den 1970er Jahren errichtete man auf dem 44 Hektar großen Gelände einen modernen Güter- und Containerterminal. Nach der Eröffnung der neuen Verladestation Wien-Inzersdorf wurde dieser geschlossen.
Im Zuge der Stadterweiterung sollen auf dem nun weitgehend brach liegenden Gelände Wohnungen für 12.000 Menschen, 5.000 Arbeitsplätze sowie eine große Parkanlage entstehen.
I. Ein Bahnhof im Donauschwemmland
Nordwestbahnhof um 1873
Finanziert wurde das Projekt durch ein Konsortium böhmischer Aristokraten, Großgrundbesitzer und Industrieller mit dem deklarierten Ziel, die nordböhmischen Regionen an Rohstoffgebiete und Absatzmärkte anzuschließen.
Die Finanzierung erfolgte über Aktiengesellschaften, was seinerseits zur Voraussetzung hatte, ein modernes Bankensystem zu etablieren. Da gläubigen Katholiken (damit auch dem Kaiserhaus) verboten war, Zinsgeschäfte zu betreiben, spielte das jüdische Bürgertum eine prominente Rolle bei diesen Infrastrukturmaßnahmen. Rothschild etwa gelang es, eine Ausweitung der Bürgerrechte für Juden in Wien zu erwirken, was wiederum die jüdische Zuwanderung beförderte.
Die Bahnhofsoffensive trat enorme Spekulationswellen los, die durch die Weltausstellung 1873 zusätzlich angetrieben, schließlich im Börsenkrach mündeten. - Michael Zinganel
II. Wirtschaftsknotenpunkt Nordwestbahnhof
ÖNB
Bahnhofshalle, 1910
Im Jahr 1911 siedelte der aus der Schweiz stammende Gottfried Schenker seine gleichnamige Spedition am Rand des Frachtenbahnhofs an. Er war es, der den Sammelgutverkehr entwickelt hatte und am Nordwestbahnhof zentralisierte.
1899 entstand am Schwesterbahnhof, dem Nordbahnhof, eine erste Fischhalle. Die ertragreicheren Dampfflotten brauchten neue Absatzmärkte. Nordsee (ursprünglich Bremer Dampffischereigesellschaft Nordsee) war hier federführend. Erst 1923 wurde eine Fischhalle am Nordwestbahnhof errichtet - gegenüber der sogenannten Bananenhalle, da über die Nordseehäfen auch Südfrüchte importiert wurden. - Michael Hieslmair
III. Film, Politik und Veranstaltungen
Bereits 1924 wurden am Nordwestbahnhof Teile des Films "Die Stadt ohne Juden" gedreht.
ÖNB
Stirnfront mit Hakenkreuzfahnen und dem Hoheitszeichen des Dritten Reichs anlässlich der Abstimmungskampagne, 1938.
Die Bahnhofshalle wurde schon von den Austrofaschisten für Reden genutzt, und nach der NS-Okkupation 1938 fanden zahlreiche NS-Großveranstaltungen im Nordwestbahnhof statt. Auch die Wanderausstellung "Der ewige Jude" wurde hier gezeigt, gerade weil die Anreise zum Bahnhof mit der Straßenbahn durch vornehmlich jüdisches Wohngebiet erfolgte.
Während des Krieges reaktivierte die Deutsche Reichsbahn das Gelände. Im April 1945 wurde das Bahnhofsgebäude durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt, 1952 wurde es durch die russische Besatzungsmacht abgetragen. Die endgültige Einstellung des Personenverkehrs erfolgte 1959 mit der Eröffnung des Bahnhofes Praterstern. - Michael Zinganel
IV. Moderne Logistikdrehscheibe
Südöstliches Areal des Nordwestbahnhofes. Der Kran wurde 2017 demontiert.
In den 1970er Jahren errichtete man auf dem 44 Hektar großen Gelände einen modernen Güter- und Containerterminal. Neue Projekte wurden vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Personenhalle angesiedelt. Europalette und Gabelstapler, ab 1965 auch Frachtcontainer beschleunigten den Warenverkehr und die Anbindung Wiens an die leistungsfähigen Häfen in Hamburg, Rotterdam und Duisburg.
Ein letzter Ausbau erfolgte in den 1980er Jahren. Mit dem EU-Beitritt 1995 veränderte sich das Speditionsgeschäft dramatisch. Immer mehr neue Formen der Zwischennutzung entstanden auf dem Bahnhofsgelände. - Michael Hieslmair
V. Neue Entwicklungen
ÖBB/ENF Architekten
Renderings des neuen Stadtteils
Die Neubebauung wird kaum mehr Anknüpfungspunkte an die ursprüngliche Nutzung bieten. Das Postamtsgebäude an der Nordwestbahnstraße, ein kleines Stellwerk und eine Lagerhalle werden als homöopathische Dosierungen von Erinnerung in einem stilistisch neu ausgerichteten Areal stehen. - Michael Zinganel
Service
Der Nordwestbahnhof. Mit Michael Zinganel und Michael Hieslmair, Architekturhistoriker.
Gestaltung der Sendungen: Andreas Wolf
Nordwestpassage
Stadt Wien - Städtebauliches Leitbild Nordwestbahnhof
Stadt Wien - STADTRAUM Nordbahn-Halle - Ausstellung zum Nordbahnhof und Nordwestbahnhof
ENF - Nordwestbahnhof, Wien