Agnes Heller

ASSOCIATED PRESS/ONDREJ DEML

Im Gespräch

Agnes Heller - die ganze Sendung zum Nachlesen

Renata Schmidtkunz im Gespräch mit der am 19.7. verstorbenen ungarischen Philosophin Ágnes Heller - zum Nachlesen.

Wir hatten Ihnen für heute ein Gespräch angekündigt, dass meine Kollegin Doris Stoisser 1991 mit dem 2007 verstorbenen ungarischen Theaterregisseur George Tabori geführt hat. Aber aus gegebenem Anlass habe ich das Programm geändert. Sie hören nun ein Gespräch, das ich im April 2014 mit der ungarischen Philosophin Agnes Heller geführt habe.

Heute vor einer Woche, am 19.Juli, schwamm die 90-jährige auf den Plattensee hinaus und kehrte nicht zurück. Bis zuletzt, so schreibt Jürgen Habermas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sei sie ZITAT "eine Person von sprühender Lebendigkeit" gewesen. Und weiter: "Die Sprungfeder ihres Geistes konnte einfach nicht ermüden".
So habe auch ich Ágnes Heller in den letzten Jahren immer wieder erlebt. Der plötzliche Tod, der wirkt, als sei er die Folge einer bewusst gefällten Entscheidung, passt – wie mir scheint - zu ihrem Wesen, ihrem Charakter und ihrem Leben.

Sie werden es merken beim Hören des Gespräches, in dem es zunächst um die Wiederwahl Viktor Orbáns im April 2014 geht, dann aber um Fragen des Verhältnisses von Staat und Individuum und um die Rolle und Aufgabe der Philosophinnen und Philosophen in der Gesellschaft. Aus heutiger Sicht ist das Gespräch beinahe visionär oder prophetisch. Vieles, was Ágnes Heller zum autoritären und undemokratischen Regierungsstil von Viktor Orbán sagte, war damals für den Rest Europas gar nicht denkbar. Aber wie Sie alle wissen, hat sich die politische Landschaft in Europa den damals so heftig kritisierten ungarischen Verhältnissen angepasst.

Ágnes Heller belebte. Ihre große Stärke war: ohne jedes Pathos glasklar zu denken – und zwar auch mit dem Herzen. Sie konnte in Beziehung treten mit ihrem Gegenüber, sie war über die Maße neugierig und immer lebendig, zugewandt und interessiert an der Meinung der anderen. War man mit ihr auf den Straßen von Budapest, Wien, Salzburg oder Berlin unterwegs, musste man schauen, dass man mit ihrem Tempo mithalten konnte. Sie war nie besserwisserisch oder eitel, außerdem eine Meisterin im Zuhören und leidenschaftlich am Dialog interessiert.

Ágnes Heller war Mutter einer Tochter und eines Sohnes, Großmutter von 6 Enkelkindern und Urgroßmutter von einem Urenkel. Sie war interessiert am Alltagsleben von Menschen, sah ihre Aufgabe darin, Fragen zu stellen und war trotz heftigster Propaganda gegen ihre Person nicht bereit, sich die Liebe zu ihrer ungarischen Heimat absprechen zu lassen.

Geboren 1929 in Budapest, der Vater stammte aus Wien, die Großmutter Sophie war eine geborene Meller und eine der ersten Frauen, die an der Universität von Wien studierten.

Weil die Zeiten schwer waren, sagt sie, bekamen die Eltern nur ein Kind. Geschwister hat sie immer vermisst. Der Vater, ein Jurist, der vielen ungarischen Juden zur Flucht verhalf, wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sie selbst überlebte mit ihrer Mutter in Budapest nur knapp.

Nach dem Krieg wird sie Studentin eines der bedeutendsten Philosophen des Marxismus, Gyorgi Lukacs. Sie wird seine Assistentin, beginnt an der Universität zu lehren, begreift, dass Karl Marx die Freiheit der Menschen im Auge hatte und vertritt die Ansicht, dass der Marxismus behutsam an die Lebensbedingungen der jeweiligen Länder angepasst werden muss.

Unter Janos Kádár, dem Restaurator des sowjetischen Einflusses nach 1956, wird sie 1958 von der Universität entfernt, 1973 auch aus der ungarischen Akademie der Wissenschaften wegen "Abweichung" ausgeschlossen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Philosophen Ferenc Feher, emigriert sie 1977 nach Australien.
An der Universität von Melbourne lehrt sie von 1978 – 1986 Soziologie.

1987 folgt der Ruf auf den Hannah Arendt Lehrstuhl für Philosophie an der "New School for Social Research" in Greenwich Village/New York.

In den letzten 20 Jahren entwickelte Agnes Heller eine neue Art des Neokonservativismus, ganz besonders unter dem Einfluss von 9/11.
Seit ihrer Emeritierung pendelte sie zwischen New York und Budapest, schrieb über Shakespeare, Ästhetik, politische Theorie, die Rolle Osteuropas in der Geschichte des Kontinents, Ethik und Komik.

Ágnes Heller wurde mit zahllosen international renommierten Preisen ausgezeichnet.

Das Gespräch

Renata Schmidtkunz: Liebe Frau Heller, Ungarn hat gewählt. Die Reaktionen in Europa und in der Welt sind sehr unterschiedlich ausgefallen. Sie, Frau Heller, hat das Ergebnis wahrscheinlich nicht überrascht, oder doch?
Ágnes Heller: Es hat mich nicht überrascht, es war ganz sicher. Falls weniger Leute an der Wahl teilnehmen, wird sicher Fidesz (Ungarischer Bürgerbund, Magyar Polgári Szövetség) siegen. Wenn viele Leute teilnehmen, ist das Ganze überhaupt nicht sicher, kann auch die Opposition siegen. Aber wenn sich schon um 11 Uhr herausstellt, dass weniger wählen als vor vier Jahren, da habe ich schon gewusst, dass Fidesz die Wahl gewinnen wird.

Aber das heißt Sie sagen, Fidesz hat nur gewonnen hat, weil die Wahlbeteiligung so gering war?
Weil die Wahlbeteiligung so gering war, 40 Prozent der Bevölkerung hat an der Wahl nicht teilgenommen. Diese niedrige Wahlteilnahme zeigt, dass die Leute nichts von dieser Wahl erwarten. Fidesz bekam weniger Stimmen als die Opposition zusammen. Das hängt nicht von den Linken oder Rechten ab. Das hängt von der ungarischen Tradition ab.

Gut, dann lassen Sie uns die 44 Prozent, die 44,5 Prozent, der Menschen anschauen, die in Ungarn Fidesz gewählt haben. Die hatten ja wahrscheinlich gute Gründe. Oder sind die alle Opfer einer Propaganda?
Die zwei kann man nicht unterscheiden. Wenn man viel an Propaganda hört, dann kann man an die Propaganda glauben, das wissen wir ja wohl. Sehr viele glaubten János Kádár nach der Revolution 1956. In einem dreiviertel Jahr haben eine Million Leute für ihn protestiert, haben ihn unterstützt. Wenn man etwas viel hört "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit", werden die Menschen das früher oder später glauben. Fidesz hat einen nationalistischen Propagandaapparat. National muss immer anziehen. Menschen glauben an Nationalismus. Eine Art von Gemeinschaft brauchst du doch. Nationalismus, Nation, Chauvinismus, das ist immer eine virtuelle Gemeinschaft. Die Menschen haben sich gewöhnt zu einer virtuellen Gemeinschaft zu gehören und natürlich ist die Rhetorik vom Freiheitskampf, Ungarn lieben die Revolution, der Freiheitskampf – und unsere Regierung hat einen Freiheitskampf gegen Brüssel, und wir haben eine Revolution gemacht, eine zweite Systemwende gemacht. Menschen lieben diese Rhetorik.

Wenn Sie jetzt den Nationalismus ansprechen, Frau Heller, dann würde ich sagen Nationalismus heißt ja, dass ich in erster Linie mein eigenes Volk liebe und mich um mein eigenes Volk kümmere.
Das ist eine sehr interessante Art von Nationalismus. Nationalismus kann französischer Nationalismus sein, wo Präsident De Gaulle Jean Paul Sartre (französischer Philosoph, 1905-1980) im Spital besuchte, er ist doch auch ein Franzose. Und wenn jemand ein Nobelpreisträger ist, interessiert es niemanden, ob er Gaullist ist, Kommunist ist, er ist ein Franzose. Nicht so in Ungarn. Ungar ist nur, wer Fidesz wählt. Wer nicht Fidesz wählt, gehört überhaupt nicht zu Ungarn. Wenn sie in Opposition waren gegen die Sozialisten sagte Orbán "die Heimat kann nicht in Opposition sein. Sie sind die Heimat." Und die anderen sind alle Kommunisten. Die überhaupt nichts mit Ungarn zu tun haben. Sie sind die ungarische Nation, sind gegen die Kommunisten. Das ist so einfach. Und auf der anderen Seite gibt es auch so etwas. Wenn jemand über Fidesz spricht, sagen sie das sind Faschisten. Sie sind Nazis, das ist auch ganz und gar ungerecht. Natürlich sagt die Linke nicht, dass die Fidesz keine Ungarn sind, weil Fidesz sagt, dass die anderen keine Ungarn sind. Aber es zeigt die Spaltung der Bevölkerung.

Wie weit geht denn Ihrer Meinung nach Frau Heller diese Spaltung zurück?
Diese Spaltung als eine Spaltung geht nur bis zur Systemwende zurück. Während der Revolution 1956 war die ungarische Bevölkerung vereinigt. Wir haben einander nicht gefragt, ob du zur Rechten oder zur Linken gehörst. Wir alle waren gegen die Regierung, gegen die kommunistische Regierung, die Sowjetunion, gegen die Besetzung von Ungarn. Es war keine Spaltung, es war nur die kommunistische Regierung, damals Rákóczi-Regierung, später Kádárs Regierung und die ganze Bevölkerung war dagegen. Das heißt ganz unabhängig von unseren politischen Standpunkten oder Ideologien waren wir vereinigt.

Was mir nicht ganz einleuchtet. Weil es auch zur Niederschlagung des Aufstandes 1956 einen Apparatschik gebraucht hat, der diesen Aufstand niedergeschlagen hat, das waren nicht nur die russischen Soldaten, sondern auch Ungarn, die gegen Ungarn losgegangen sind.
Meine liebe Renata, es gibt immer Apparatschicks, ich habe noch kein Land gesehen, und keine Situation gesehen, wo man keine Apparatschicks gefunden hat, natürlich gibt es immer. Verräter gibt es in allen Ländern in allen Zeiten, das ist keine Frage.

1956 war das Volk geeint, und sie sagen, die Spaltung geht zurück bis zum Jahr 1989.
Nach 1989 haben sehr viele untereinander, auch ich, mich so geäußert: Wir brauchen eine Koalitionsregierung. Die zwei größten Parteien MDF und SDS sollen eine Koalitionsregierung bilden. Die Idee war jetzt haben wir eine Demokratie, jetzt brauchen wir eine Koalition. Dass es zu keiner Spaltung kommen soll, braucht es eine Koalitionsregierung. Ein einheitliches Ungarn braucht man. Es kam nicht, es kam langsam zu Spaltung. Damals Spaltung auf der Linie MDF, SDS. Innerhalb der Spaltung konnten sie miteinander sprechen, konnten sie miteinander diskutieren. Die wirkliche Spaltung kam mit der ersten Orbán-Regierung. Orbán machte Spaltung, er spaltete Ungarn.

Frau Heller, jetzt haben Sie den Lebensweg von Viktor Orbán schon viele Jahre verfolgt. Was ist der Grund dafür, dass ein Mann - wenn das so stimmt, wie Sie das sagen - ein ganzes Land spalten will?
Schauen Sie mal, das ist nicht sein Wille, er wollte absolute Anhänger konstruieren, und wer nicht ein Anhänger geworden ist, der gehörte zur anderen Seite. Es gibt keine Diktatur in Ungarn, aber das ist die Psychologie der Diktatur, alle. Alle Diktaturen haben diese Psychologie. Das ist eine Möglichkeit, der menschlichen Lebensweise. Und das passiert nicht nur in der Politik, es gibt Diktatoren in der Familie, besonders Männer, ebenso wie es Diktaturen in einer Stadt gibt oder im Land gibt. Das ist eine Art der Machtsucht, wie man es ausdrücken kann, man hat nie genügend Macht. Man kann immer mehr und mehr Macht haben, dann eskaliert man.

Die Kritiker von Orbán, wie zum Beispiel der Budapester Soziologe István Kreutzer, der kritisiert, das Vorgehen Orbáns, überall seine eigenen Leute einzusetzen, weil er sagt: Das ist vielleicht rechtlich richtig und rechtlich und politisch korrekt, aber es ist moralisch nicht korrekt. Ist es angebracht, in einem Nachdenken über Viktor Orbán Moral ins Spiel zu bringen?
Ich würde nicht über Moral sprechen. Es gibt eine persönliche Moral. Und es gibt politische Ethik. Das widerspricht der politischen Ethik, nicht der persönlichen Moralität.

Dann möchte ich Sie bitten, Frau Heller, dass Sie uns darlegen, was eine politisch Ethik in einer Demokratie beinhaltet.
Mindestens, dass man den Gegeninstitutionen nicht nur erlaubt, sich unabhängig zu entwickeln, sondern sie auch verteidigt. Wenn man in alle Gegeninstitutionen unsere Freunde setzt, dann ist versichert, dass sie nicht autonom sein werden, sie nicht als autonome Institutionen verteidigt werden können. In diesem Sinne widerspricht, was Sie gerade gesagt haben, der politischen Ethik.

Das heißt, der Satz würde lauten: Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich werde mich immer darum einsetzen, dass du sie sagen kannst.
Es ist eine Frage der Gesetze. Orbán will ein solches Land, wo nur ein Wille existiert. Sein Wille entscheidend ist in allen Sachen. Was er will, wird passieren. Das ist der Fall.

Dann lassen Sie uns sprechen, Frau Heller, von der Opposition. Ich spreche von der demokratischen Opposition, ich spreche jetzt nicht von Jobbik. Warum ist diese demokratische Opposition so kraftlos, so zahnlos? So ohne jede politische Methodik? Oder ohne einen erkennbaren Durchsetzungswillen. Was ist los mit der ungarischen Opposition?
Die ungarische Sozialistische Partei und die ungarische nicht-rechte Opposition wurden zerschlagen vor vier Jahren. Sie haben ihr Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit ganz und gar verloren. 11 und 12 waren einige Bewegungen, die etwas versprochen haben: eine Million für Pressefreiheit, war eine große Bewegung, nachher haben sie es vergessen. Sie haben geglaubt sie haben Zeit, sie hatten keine Zeit. Dann kamen ganz verschiedene Gruppen, die sich sehr langsam zusammengebracht haben. Sie wussten eigentlich nicht, ob sie alleine etwas tun sollen oder zusammen oder mit anderen sympathisierenden Parteien und Bewegungen, sie haben sich sehr langsam entschlossen. Kurz und gut: In Ungarn gibt es keine Politiker, das ist die einfache Sache. Nicht nur keine Staatsmänner, sondern überhaupt keine Politiker. Politische Kultur fehlt. Und es fehlen auch die Politiker. Natürlich Menschen, die Politik betreiben, existieren, sie verstehen nichts von Politik. Unser Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány (2002-2010 Regierungschef) hat überhaupt nicht gewusst, wie man Politik macht.

Was sind die Ingredienzien eines Politikers? Was muss er können, was muss "sie" können. Wo sind die Frauen?
Sie oder er müssen mindestens drei Charakterzüge haben. Erstens: die Menschen mobilisieren.

Das kann Orbán!
Das kann Orbán und das konnte Gyurcsány, das konnte er in den vorherigen Jahren als er Orbán besiegte. Zweitens die verschiedenen gegenseitige Interessen habende Gruppen freisetzen, dass sie frei miteinander diskutieren können, dass sie freie Möglichkeiten über die Gerechtigkeit oder über Gut und Böse diskutieren können. Und doch Kompromissfähigkeit mit all diesen Gruppen. Oder zu mindestens Kompromissunfähigkeit mit einigen dieser Gruppen.

Das kann Orbán nicht!
Das kann Orbán nicht. Orbán konnte das nicht, auch Gyurcsány konnte das nicht. Keiner von ihnen konnte das tun.

Drittens.
Sie brauchen auch den Sinn der Diplomatie. Das heißt sie müssen eine Idee haben, das ist wichtig - eine Konzeption haben, aber die Konzeption mit Diplomatie vortragen. Vielleicht nicht gleich, aber doch durchsetzen.

Vor den Wahlen des Jahres 2010, Frau Heller, hat Viktor Orbán gesagt, und das ist ganz wichtig, dass Demokratie nicht geeignet sei, große Probleme zu lösen. Das ist eine rhetorische Figur, die schon oft im Laufe unserer Geschichte, vor allem jener des 20. Jahrhunderts, verwendet wurde. In den 1930er Jahren von Mussolini, von Dollfuß von Schuschnigg, von Lenin, von Hitler und so weiter und so fort. Jetzt möchte ich wissen aus der Sicht der Philosophin Ágnes Heller: Ist es wahr, dass eine Demokratie nicht in der Lage ist, aufgrund der vielen widerstrebenden Bewegungen innerhalb eines Staates, große Probleme in einem Staat zu lösen? Nur wenn man das denkt kann man sagen, wir brauchen einen starken Mann.
Die zwei Sachen hängen miteinander zusammen. Ja, wir brauchen Staatsmänner und Staatsfrauen. Aber Staatsmänner und Staatsfrauen sind keine Diktatoren in einer Demokratie. Die sind gesprächsfähige Persönlichkeiten, kompromissfähige Persönlichkeiten, die eine Autorität haben - aber Autorität, nicht durch ihre Wörter nicht durch ihre Macht, Autorität durch ihre Entscheidungen, durch ihre Persönlichkeit, durch ihre Taten. Es schadet nicht Menschen in der Politik mit Autorität zu haben. Und etwas anderes von Ihren Fragen: Schnell oder langsam, davon ist die Rede. In einer Diktatur muss alles schnell, schnell, schnell sein. Jeden Tag muss man etwas zeigen, jeden zweiten Tag, immer wieder vorwärts gehen, weil niemand widersprechen kann. In einer Demokratie geht alles langsam. Wenn Menschen einander widersprechen, wenn man Kompromisse machen kann, wenn man Probleme langsam lösen kann – Wenn in einer Demokratie ein Problem gelöst ist, bleibt es gelöst. Wenn in einer Diktatur alles schnell, schnell gemacht wird, bleibt es nicht gelöst.

Wir hatten in Österreich eine Regierung, die schwarz-blaue Regierung unter Bundeskanzler Schüssel. Und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat immer wieder den Satz gesagt: Speed kills.
Speed kills. Gesetze sind verabschiedet worden im Parlament, die die Opposition nicht lesen kann, denn sie haben keine Zeit es zu lesen. Auch die Mitglieder der Fidesz haben keine Ahnung für was sie stimmen, sie haben keine Zeit es zu lesen. Speed kills, das ist Speed. Lenin sagte 1902: In der parlamentarischen Demokratie, da diskutiert man immer. Wir diskutieren aber nicht, wir handeln. Das ist dasselbe. Wir brauchen nicht zu diskutieren, wir handeln.

Frau Heller, was ist denn Ihrer Meinung nach die Aufgabe eines Staates und einer Regierung. Und was ist im Gegenzug dazu die Aufgabe von Philosophie?
Aufgabe einer Regierung ist es gut zu regieren. Das ist eine einfache Aufgabe, die sehr kompliziert ist. Deswegen braucht man Politiker, die gut in ihrem Geschäft sind. Und sie haben auch kein Geschäft, wie Philosophen, ein Geschäft haben. Unsere Profession ist auch eine Profession. Sehr viele Leute können philosophieren, aber wir philosophieren nicht. Wir tun philosophieren, wir müssen die Tradition kennen. Wir müssen die Probleme kennen, die Art und Weise kennen, wie man über die Probleme beschreibt, die Fragen beschreibt. Auch wenn wir die Fragen nicht beantworten können, zumindest können wir die Fragen beschreiben. Das heißt die Politik braucht Fachkenntnisse, braucht eine Art von Erfahrung. Ohne Erfahrung wird man kein Politiker sein. Es braucht Erfahrung, es braucht Geduld und Respekt, vor den Meinungen der anderen. Wenn du in deinem Herzen, den anderen nicht respektierst, musst du mindestens Theater spielen, dass du die Meinungen aller anderen respektierst. Das sind zwei ganz verschiedene Theater. Dieses Theater, was man jetzt in Ungarn spielt: Ein Mann hat einen Willen und dieser Wille wird durchgesetzt. Regisseur, der das macht, ist nicht an den Schauspielern interessiert, nur in seiner Konzeption. Es gibt andere demokratische Theater, wo es viele Regisseure gibt, nicht nur einen, und sie sind doch an den Schauspielern interessiert. Schauspieler sollen sagen, wie sie ihren Platz sehen, wie sie ihre Rolle beurteilen. Sie sollen ihre eigene Rolle spielen, wie sie die spielen wollen und doch ist das ein gutes Ensemble.

Und welche Rolle spielt dann die Philosophie in diesem Zusammenspiel der Kräfte? Was ist Ihre Aufgabe als Philosophin, Frau Heller? Ich kann es auch so fragen.
Meine Aufgabe als Philosophin ist es über Philosophie zu schreiben und über Philosophie nachzudenken. Das ist meine Aufgabe als Philosoph. Aber ich möchte sagen, dass Philosophen von alten Zeiten ein Liebesverhältnis zur Politik hatten. Es fing schon mit Plato an, als er nach Sizilien ging, und den Menschen dort beibringen wollte, wie ein idealer Staat aussieht und solcher idealer Staat sollen sie errichten. Seit Platon waren alle Philosophen in die Politik verliebt, wollten immer den Menschen sagen, was ist die ideale Republik. Man kann auf zwei verschiedene Weisen in die Politik verliebt sein. Zuerst mussten sie auf traditioneller Weise Tyrannen sagen, wie sie am besten reagieren sollen. Das hat Platon gemacht, das haben sehr viele Philosophen gemacht. Das hat Denis Diderot (französischer Philosoph, 1713-1784) mit Zarin Katherina gemacht, das hat Voltaire (französischer Philosoph, 1694-1778) mit dem deutschen Kaiser Friedrich II, das hat auch Jean Paul Sartre (französischer Philosoph 1905-1980) mit Chruschtschow und Fidel Castro gemacht - das heißt sie glauben ich gehe zu den Tyrannen, werde dem Tyrannen sagen , wie er den idealen Staat ausbilden kann, wie er das regieren kann. Das ist falsch.
Die andere Art ist, dass wir Staatsbürger sind. Philosophen sind ebenso Staatsbürger wie andere Staatsbürger. Wir nehmen an Diskussionen teil, wie alle anderen Staatsbürger auch. Wir können nicht vergessen, dass wir Philosophen sind, denn trotz allem bringen wir doch philosophische Gedanken ins Gespräch. Aber wir haben keine Autorität als Philosophen.

Das heißt, die Philosophin Ágnes Heller stellt Fragen und der Ideologe Jean Paul Sartre versucht Antworten zu geben.
Das stimmt auch. Aber ich habe auch Meinungen. Ich stelle nicht nur Fragen über Politik, ich habe auch Meinungen. Aber Meinungen habe ich nur als eine Staatsbürgerin. Als Philosophin stelle ich Fragen. Als Staatsbürgerin habe ich Meinungen, aber kein wahres Wissen. Denn das wollten die Philosophen immer haben. Sie glaubten, sie haben das wahre Wissen über den Staat. Das glaube ich nicht.

Das heißt, es geht im Philosophieren auch um Wahrheit?
Ja. Was Max Weber über verschiedene Sphären gesagt hat, Sphären der Religion, der Philosophie, der Kunst, der Politik: in allen Sphären geht es um Wahrheit. Aber es gibt ganz verschiedene Begriffe der Wahrheit. In der politischen Wahrheit ist Wahrheit immer eine Art Fürwahrhalten, wo man voraussetzt, dass andere etwas anderes für wahrhalten können. Das heißt die Wahrheit ist nicht als eine absolute Wahrheit, als eine unwiderstehliche, als eine unbedingte Wahrheit formuliert, aber als meine wahre Meinung. Ich glaube, wenn ich eine Meinung über etwas habe, was ich Ihnen gesagt habe, glaube ich dass meine Meinung wahr ist. Aber ich muss voraussetzen, dass andere Menschen eine andere Meinung haben. Und ich bin bereit mit anderen Menschen über ihre eigene Meinung zu diskutieren. In der Regierung gibt es absolute Wahrheiten. Doch man kann nicht über die Wahrheit diskutieren. Es ist eine offenbarte Wahrheit und ich möchte sagen auch in der Kunst, ist eine offenbarte Wahrheit. Sie hören ein Gedicht und das Gedicht offenbart ihre Wahrheit. Wir brauchen darüber nicht diskutieren. In der Politik gibt es keine, soll es keine offenbarte Wahrheit geben, als nur eine Meinung, die wir für wahr halten, die im Gespräch mit anderen Meinungen entstehen. Die andere für wahr halten. Das ist der andere Begriff der Wahrheit.

Und trotz allem, Frau Heller, gibt es etwas wie das Humanum, etwas, auf das wir uns geeinigt haben als Gesellschaften. Das - wenn man so möchte - in einer religiösen Form gefasst, die 10 Gebote umschreibt, das Einverständnis darüber, dass wir nicht töten sollen, das Einverständnis darüber, dass wir nicht stehlen sollen, dass wir nicht betrügen sollen. Also es gibt so einen Grundkodex an Dingen, die wir als Menschheit durch die Menschheitsgeschichte, durch unsere Philosophiegeschichte, unsere Religionsgeschichte als Wahrheit anerkannt haben.
Nicht als Wahrheit, als Normen und Werte erkennen wir sie an. In einer Geburt gibt es keine Wahrheit. Sie ist moralisch. Moralische Geburt kann man nicht als wahr beschreiben. Aber es ist ein Sollen. Das sollst du tun, das sollst du nicht tun. Das ist eine moralische Norm, das ist keine Wahrheit. Wahrheit ist zum Beispiel das erste Gebot: Ich bin Gott. Ich bin Gott, euer Herr. Das kann man annehmen und nicht annehmen, das ist eine absolute Wahrheit, und Gott hat diese Gesetze offenbart. Aber die offenbarten Gesetze können auch als moralische Normen und moralische Werte funktionieren.

Ist das etwas, das wichtig ist für die Philosophin im Betrachten und Analysieren eines politischen Systems?
Alle politischen Systeme haben ihre eigenen Werte. Zum Beispiel in alten politischen Systemen war es eine Tugend zu lügen. Den Feind muss man belügen, soll man belügen, das ist doch ganz und gar in den Normen der Politik. Lüge wurde nicht als etwas Negatives verstanden. In der Politik ist es auch heute eine problematische Sache. Man darf nicht lügen, aber man muss nicht immer die Wahrheit sagen in der Politik. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Man soll nicht lügen. Ich zitiere jetzt die Bibel: Nicht gegen den Nachbarn ein falsches Zeugnis abgeben, das ist eine absolute Norm. Gegen unseren Nachbarn ein falsches Zeugnis abzulegen sollen wir nicht, aber wir können nach der Bibel für unseren Nachbarn ein falsches Zeugnis abgeben.

Wie gehen wir mit dem Begriff der Menschlichkeit um? Wir schauen jetzt nochmal auf die konkrete Situation in Ungarn. Wir sind ja gerade in Budapest. Und eine Kritik, die an Orbáns Regierung geübt wird, ist die Kritik, die kam auch von der Armutskonferenz in Österreich, die Kritik, dass die verschärfte soziale Lage hier Armut kriminalisiert.
Menschlichkeit als eine Norm ist modern. In alten Zeiten gab es keine Menschheit, so gab es keine Menschlichkeit. Einige Menschen sind frei geboren, die anderen sind als Sklaven geboren, oder als Leibeigene, einer als Mann, eine als Frau geboren. Für Frau gilt keine Menschlichkeit. Menschlichkeit ist eine moderne Konzeption. Es wird oft der Satz gesagt: Alle Menschen sind frei geboren, und wir sind in gleicher Weise mit Gewissen und Vernunft ausgestattet. Wir haben das gleiche Recht auf Leben, Freiheit und eigene Glückseligkeit in den eigenen Wänden. "Pursuit of happyness" (das Streben nach Glück.) In der Moderne gibt es etwas, das man als "crime against humanities" bezeichnet, weil überhaupt dieses Konzept "humanity" existiert. Heute kann man die Sache so beschreiben, und so interpretieren und kann sagen, ob es das Recht für menschliches Handeln verletzt ist oder nicht verletzt.

Ist das für Sie eine Norm, Frau Heller, diese humanity?
Ich glaube, dass alle diese Normen – crime against humanities – eine sehr stark interpretierte Konzeption sind. Wenn man über Staatsbürger spricht, weiß man genau, wenn man etwas gegen die Rechte der Staatsbürger tut. Wir wissen, was die Rechte der Staatsbürger sind in einer Demokratie. Wir wissen nicht, was die Rechte eines Menschen sind, nur weil sie oder er zur Menschheit gehört. Das ist das human rights problem. Was heißt es zur Menschheit zu gehören? Ob du ein Recht hast als ein Mensch zu etwas. Ich gebe Ihnen die einfache Interpretation. Es gibt ein Menschheitsrecht - Recht für Emigration. Aber es gibt kein Recht für die Immigration. Das gehört zum Staat. Es gehört zum Staatsrecht. Dass ich ein Recht zur Emigration haben kann, wenn ich überhaupt kein Recht zur Immigration habe in einen Staat. Das sind verschiedene Kategorien des Rechtes. Verschiedene Ebenen, verschiedene Interpretationen des Rechtes und die werden immer wieder neu interpretiert.

Auf was kann ich mich dann als Staatsbürgerin verlassen, Frau Heller? Wenn wir nochmal über die Politik in Ungarn sprechen, diese zunehmende Arbeitslosigkeit, Verarmung von breiten Gesellschaftssichten, die Kriminalisierung von Armut durch die Sozialgesetzgebung, die sich auch mit der Verfassung 2010 verändert hat, auf was kann ich mich als Mensch verlassen? So wie Sie das jetzt beschreiben, das Interpretierte auch schwach ist, ist ein schwacher Topos. Auf was kann ich mich als Mensch verlassen?
Ich glaube das sind nicht Menschenrechte, das sind Staatsbürgerschaftsrechte. Sie sind kriminalisiert als Staatsbürger, weil sie arm sind. Sie haben aber das Staatsbürgerrecht nicht kriminalisiert zu werden. Wenn Menschen immigrieren nach Ungarn aus Pakistan und Obdach bekommen oder nicht, das sind Menschenrechte, sie sind keine Staatsbürger. Aber wenn ungarische Staatsbürger kriminalisiert werden, weil sie arm sind, dann werden die Staatsbürgerrechte der Menschen verletzt.

Wie sind die Staatsbürgerrechte zu schützen, durch wen?
Die Staatsbürgerrechte soll die Regierung schützen. Die Regierung soll keine Staatsbürger kriminalisieren, weil sie arm sind. Das ist die Aufgabe des Staates, der Regierung, Staatsbürger zu schützen. Es ist auch die Aufgabe der anderen Staatsbürger ihre eigenen Mitstaatsbürger zu schützen gegen Kriminalisierung.

Frau Heller, wenn wir uns jetzt in Europa umschauen, von Nord bis Süd, von Schweden bis nach Ungarn, dass es so etwas gibt wie einen permanenten, ununterbrochenen Wahlsieg Rechtskonservativer Parteien. Und jetzt frage ich Sie: Hat die Sozialdemokratie europäischen Ausmaßes ihr Ende gefunden, also soziale Marktwirtschaft und Sozialdemokratie mit einem ausgeprägten Sozialstaat, oder handelt es sich um einen Rechtsruck und was wären die geeigneten Mittel, um das zu verhindern?
Ich glaube, es ist ein Rückzug. Es hängt mit der modernen Dynamik der Gesellschaft zusammen. Dynamik ist, Marktgesellschaft, Marktverteilung. Die Verteilung geht am Markt, die Wiederverteilung muss durch den Staat stattfinden. Es gibt immer ein verschiedenes Verhältnis zwischen Marktverteilung, Wiederverteilung. Wenn die Marktverteilung überwiegend ist, dann kommt die Verarmung eines Teils der Bevölkerung. Wenn die Wiederverteilung stärker ist, durch den Staat, dann stagniert die Wirtschaft. Das heißt wir gehen von einem Ende zum anderen. Das ist nicht gut. Ich möchte das nicht verteidigen. Nur muss ich sagen: Wir können keine bessere Lösung heute haben, ich sehe nichts über diesem Horizont.

Das heißt, Ágnes Heller steht für eine kapitalistische Gesellschaft, die über den Markt erwirtschaftet und über den Staat verteilt, nach gerechten Maßstäben.
Es gibt so etwas nicht wie eine kapitalistische Gesellschaft. Karl Marx (deutscher Ökonom, Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, 1818-1883) zum Beispiel hat dieses Wort nicht einmal benützt. Es gibt keine kapitalistische Gesellschaft. Kapital, sagte Marx, und hatte Recht, ist ein menschliches Verhältnis, ist ein Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das ist ein soziales Verhältnis. Es gibt keine Gesellschaft, die man durch ein soziales Verhältnis bestimmen kann. Eine Gesellschaft ist sehr komplex: es gibt Rechtssysteme und andere soziale Systeme, es gibt ein Verhältnis zwischen Menschen, sehr viele kulturelle Systeme, es gibt Narrative, ein kulturelles Gedächtnis, so viele komplexe Dinge. Das ist einfach: Es gibt eine Verteilung durch den Markt. Das soll man wieder verteilen, wegen der sozialen Gerechtigkeit. Das sagt Marx, er war ein kluger Mensch: er sagte das Marktverhältnis basiert zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das ist ein menschliches Verhältnis. Das ist auf Freiheit und Gleichheit begründet. Sie sind frei und sie sind gleich. Aber aus dieser Gleichheit entwickelt sich Ungleichheit. Da hat er Recht gehabt. Und wenn sich aus dieser Gleichheit Ungleichheit entwickelt, ist der Staat da, um wiederzuverteilen, wegen der Gerechtigkeit.

Das heißt, wir müssen über das Wort Gerechtigkeit sprechen, Frau Heller. Was ist denn Gerechtigkeit in einer Gesellschaft?
Das kann ich ihnen nicht sagen, denn Gerechtigkeit ist nicht wie Salz oder Zucker. Wie viel Prozent Salz oder Zucker in einem Schluck Wasser ist, das hängt von den Menschen ab, die sagen: Was existiert ist ungerecht, etwas anderes würde gerechter sein. Wie viel sie sind, ob sie dazu fähig sind als Staatsbürger die Institutionen zu verändern, dass die Institutionen mehr gerecht werden, als die Situationen, die sie verändert haben. Und das geht so und immer etwas anderes wird als ungerecht angesehen. Und da kommen immer Menschen, die sagen das ist ungerecht, etwas anderes würde gerechter sein. Es kann Konflikte zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geben, deswegen haben wir die Demokratie, dass die Leute sich frei ausdrücken können, wenn sie etwas ungerecht finden. Deswegen haben wir Zeitungen. In der vorherigen Zeit brauchten Sie keine Zeitungen, was die zentrale Macht sagte, das war recht und gerecht. Und das war die Gerechtigkeit. Hunger und Gewalt. Aber jetzt sind wir eine Gesellschaft, wo man keine Gewalt braucht. Wir können in den Zeitschriften schreiben, wir können demonstrieren. Es gibt keine gerechte Gesellschaft, oder wenn es eine gibt, ist es nicht wünschenswert. Denn eine gerechte Gesellschaft würde eine Gesellschaft sein, wo alle Menschen sagen würden diese Gesellschaft ist gerecht. Gott behüte uns vor einer gerechten Gesellschaft. Das kann keine Demokratie sein.

Frau Heller, dieses Bedürfnis des Menschen nach Gerechtigkeit zieht sich durch unsere ganze Geschichte wieder muss ich erwähnen die Religionsgeschichte Philosophiegeschichte. Woher kommt das? Ist das eine Conditio humana? Ist das etwas, das zu unserem Menschsein dazugehört, oder ist das etwas, das wie eine Mode, eine Farbe, die man trägt im Frühjahr oder einen besonderen Schnitt eines Kleides, einer Hose an uns vorüberstreift?
Es gibt zwei Begriffe der Gerechtigkeit. Einen kann man statisch, einen dynamischen Begriff nennen. Der statische Begriff der Gerechtigkeit war immer da, seit die menschliche Gemeinschaft existiert. Er ist sehr einfach. Wenn auf eine menschliche Gruppe irgendeine Norm oder Regel angewendet wird, soll man diese Regel in allen Fällen und kontinuierlich für alle Menschen, die zu dieser Gruppe gehören, gleich verteilen. In der Schule, wenn man sagt, du kannst Noten von 1-5 haben und die Schulkinder sagen, dieser Lehrer ist nicht gerecht. Alle wissen worum es geht: Dass ein Kind gut geantwortet hat, doch eine schlechte Note bekommt, weil der Lehrer ihn oder sie nicht gerne hat. Wir alle wissen das ist ungerecht. In diesem Sinn gab es immer Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit. Es ist keine Gesellschaft, wenn es keine Regel gibt. Deswegen sind wir eine Gesellschaft. Wenn wir die Regeln nicht auf gleiche Weise auf alle die zur Gruppe gehören anwenden, dann sind wir ungerecht. Das ist eine neue Konzeption. Gruppen sagen, dass diese Regeln, die alten Regeln, nicht mehr gerecht sind. Wir brauchen neue Regeln. Im Konflikt zwischen Alt und Neu, kommt die dynamische Gerechtigkeit. Juliette von Juliette und Romeo sagte: Warum soll ich einen Mann heiraten, den ich nicht liebe und nicht den Mann, den ich liebe? Die alte Regel ist schlecht. Wir brauchen andere Regeln. Das heißt dieses dynamische Konzept der Gerechtigkeit kommt schon in Athen zum ersten Mal, im Fall der Philosophie. Sie haben es erfunden, Sokrates und Plato haben es erfunden. Auch in der Bibel ist dieses dynamische Konzept der Wertigkeit sehr stark, wenn zwei verschiedene Kulturen, alt und neu in einer Konfliktsituation stehen, dann entwickelt sich der Begriff der dynamischen Gerechtigkeit. In der Moderne ist das der überwiegende Begriff. Jeden Monat, jeden Tag sagen wir, das ist nicht gerecht, etwas anderes würde gerechter sein. Das ist die moderne Welt.

Was bedeutet das, wenn dieses Konzept der Gerechtigkeit überhandnimmt, wenn wir nur mehr diesen Begriff von Gerechtigkeit haben. Was würde das bedeuten?
Wir haben sowieso diesen Begriff der Gerechtigkeit, weil wir verschiedene menschliche Gruppen haben, was für den einen gerecht ist, ist für den andere ungerecht. Sie haben eine Diskussion über Gerechtigkeit, einen Konflikt über Gerechtigkeit. Alle gesellschaftlichen Konflikte sind Konflikte über Gerechtigkeit. Alle gesellschaftlichen Konflikte gehen darum, was gerecht und was ungerecht ist.

Frau Heller, sie haben ein sehr bewegtes Leben bisher gelebt. Sie sind als Mädchen hier geboren in eine jüdische Familie. Sie sind mit ihrer Mutter ganz knapp dem Tode entronnen. Sie haben hier in Ungarn studiert. Sie waren Schülerin von György Lukács. Sie waren Kommunistin eine Zeitlang. Sie haben Ihr Denken auch weiterentwickelt in den Jahren. Sie sind dann 1977 weggegangen aus Ungarn, weil Sie unter Druck gesetzt wurden, sind dann nach Australien, haben dort eine Professur gehabt. Sie sind dann nach New York, haben dort die Hannah Arendt-Professur gehabt. Was hat Sie in Ihrem Denken, in Ihrem Sein am meisten geprägt? Was waren für Sie Ihre wichtigsten philosophischen Erkenntnisse, was war die Schule des Lebens für Sie?
Das ist sehr schwer. Eine wichtige Frage, die schwer zu beantworten ist. Als ich selbst Philosoph werden wollte, das war als ich einmal an einer Lukács Vorlesung teilgenommen habe, darüber habe ich viel gesprochen. Von diesem Moment an, hatte ich den Wunsch ein Philosoph zu werden. Ich habe mit meinem damaligen Freund, meinem ersten Mann, alle Bücher der Vergangenheit, alle die wir bekommen konnten gelesen und besprochen. Aber welche Philosophie mich am meisten beeindruckt hat, das hing sehr vom Zeitpunkt ab. Am Beginn hat mich die "Kantische Kritik" der Urteilskraft am meisten beeindruckt. Später war Hegel mein Liebling geworden. Dann habe ich auch Marx kennengelernt. Ich war Marxist, weil ich dachte Lukács ist ein Marxist, ich bin auch ein Marxist, weil ich mit Lukács einverstanden bin. Aber die Bücher außer Kapital 1 konnte man nicht lesen, wir haben keine Erlaubnis bekommen, nur nach 1953 konnten wir diese Bücher lesen.

Also nach dem Ende der stalinistischen Ära.
Als Stalin gestorben war, denn da war für uns Marxismus nur Lenin und Stalin. Aber nach 1953 fing ich an, Marx zu lesen. Da wurde ich wirklich ein Marxist. Für eine Weile hat mich Marx sehr beeinflusst, ohne mit allem einverstanden zu sein, was er sagte. Zum Beispiel hat er damals Bücher geschrieben, Alltagsleben, das bis zum heutigen Tag in Lateinamerika, ein sehr berühmtes Buch geblieben ist. Da habe ich nur zwei Sachen von Marx nicht angenommen. Das Paradigma der Produktion, das hat mir nicht gefallen. Und die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats, obwohl das wichtige Sachen waren. Ich war ein utopischer Kommunist gewesen. Mein Marx war der Marx der "Pariser Manuskripte" (1844), wo es überhaupt kein Recht mehr gibt, überhaupt keinen Staat mehr gibt, weil wir alle moralische Menschen sein würden. Das hat mich so beeindruckt. Und natürlich die sogenannte große Erzählung, das heißt, es gibt eine positive Entwicklung der Geschichte, aber in der letzten Zeit, war ich ein wenig skeptisch gewesen. Ich habe eine kurzes Essay geschrieben: Wert und Geschichte. Da habe ich diese Entwicklung, diese Konzeption des historischen Fortschritts schon ein wenig relativiert, doch in diesem Sinne, bin ich eine Marxistin gewesen. Aber dann hat mich doch nicht Marx am meisten beeindruckt, sondern Søren Kierkegaard (dänischer Philosoph, 1813-1855), in Ungarn habe ich noch in meiner marxistischen Periode, einen langen Artikel geschrieben Kierkegaard oder Marx – entweder oder? Und bin zum Schluss gekommen: Das falls Marx nicht Recht hat, dann ist nur Kierkegaards Philosophie wahr. Später habe ich auch ein Buch über Aristoteles geschrieben, ich war in Platon und Aristoteles verliebt, immer etwas Neues. Und später auch meine Zeitgenossen Michel Foucault (französischer Philosoph 1926-1984), Jaques Derida (französischer Philosoph, 1930-2004) – auch Jürgen Habermas (deutscher Philosoph, geboren 1929) hat mich schon seit langer Zeit interessiert. Auch meine Zeitgenossen wurden für mich sehr wichtig, aber nie wichtiger als Kierkegaard, nie wichtiger als Platon, Hegel, aber sehr wichtig.

Und Hannah Arendt?
Ich habe jetzt etwas Langes über Hannah geschrieben. Sie ist eine wunderbare Essayistin gewesen, vielleicht die beste Essayistin des 20. Jahrhunderts, ihrer Zeit. Es war ein wichtiger Stil. Der erste Mann, der das praktizierte war Lukács, er hat auch ein Vorwort, über sie geschrieben, über Essay als neues philosophisches Genre. Das muss doch das philosophische System ersetzen. Hannah Arend - alle ihre Bücher sind Essays.

Sie sagen Hannah Arendt hatte kein geschlossenes, philosophisches System.
Man braucht in der Moderne kein philosophisches System. Die postmetaphysische Philosophie findet Systeme verdächtig. Es gibt sie, aber man findet sie verdächtig. Sie hat Essays geschrieben und was sie wirklich verstanden hat, ist Geschichten zu erzählen, besonders politische Geschichten, und aus der politischen Geschichte hat sie die neuen politischen Begriffe entfaltet. Ihr Begriff des Totalitarismus war ein neuer Begriff gewesen. Sie hat ganz viele neue Begriffe entfaltet. Nicht immer solche Begriffe, die ich positiv annehme. Sie verachtete zum Beispiel die soziale Frage, glaubte, dass man sich in der Politik überhaupt nicht mit der sozialen Frage beschäftigen soll. Meiner Meinung nach war das kein guter Gedanke.

Gibt es denn ein geschlossenes Hellersches Philosophiesystem?
Ich wollte nie ein System. Doch in einer Weise entwickeln sich Systeme, die man nicht entwickeln will. In einer Weise möchte ich sagen, dass meine Bücher über Geschichtsphilosophie, meine Bücher über Moralphilosophie zusammenhängen, und zwischen den beiden ist mein Buch über Gerechtigkeit. Hier ist Gerechtigkeit, auf der anderen Seite ist Theorie der Geschichte, Philosophie der Geschichte, am Ende Theorie der Moderne. Und auf der anderen Seite ist allgemeine Ethik, Moralphilosophie und Ethik der Persönlichkeit, die in einer Weise wachsen in zwei verschiedene Richtungen. Das kann man auch als System verstehen, so wie in Foucaults Werk kann man die verschiedenen Diskurse über Wissen oder über Ethik oder über den Leib, über Macht als ein zusammenhängendes System verstehen. Es ist nicht obligatorisch, es ist nicht als System gemeint, es ist nicht so gewollt.

Frau Heller, 2014 ist das Jahr, in dem es 25 Jahre her ist, dass der Eiserne Vorhang gefallen ist. Warum und woran ist denn nach Ihrer Meinung der Kommunismus gescheitert?
Das war eine totalitäre Diktatur mit einer kommunistischen Ideologie, die jedes zweite Jahr wechselte. Die Ideologie war durch mehrere Veränderungen gegangen. Aber die Ideologie zeigte auf die Klassen, die man vernichten soll. Das war eine Gesellschaft, wo die Klassengesellschaft in der Massengesellschaft verändert war. Die Massengesellschaft zeigte auf die menschlichen Gruppen, die man töten oder in Vernichtungslager oder Internierungslager schickte. Das ist das Problem, warum es so spät scheiterte. Dort hat man verwirklicht Tugend und Terror. Die Menschen, die Terror ausübten, waren die Menschen, die andere lieben sollten. Sie waren verliebt, die Menschen, die Terror ausüben werden in einer Weise verliebt. Auch ohne Propaganda. Wenn ein Mann seine Frau immer prügelt, wird die Frau ihn wahrscheinlich immer mehr lieb haben. Und wenn ein Tyrann ein Volk prügelt und tötet, werden diese Leute ihn immer für einen Gott halten. Das passierte mit und auch nach Stalin. Das war eine fürchterliche Gesellschaft. Gottseidank scheiterte das.

Was von dieser Ära Osteuropas, wäre es denn wert gewesen zu bewahren? Gibt es etwas, dass Ihnen heute in Europa fehlt, wenn Sie auf diese Zeit des geteilten Europas zurückschauen?
Nichts was in kommunistischen Zeiten in Ungarn oder in Osteuropa passierte, fehlt mir. Das fehlt mir, dass es nicht ganz und gar verschwunden ist. Dass Orbans Regime sehr viel von der Kádárschen Zeit und Institutionen zurückblieb: Konzentration, Zentralisation, Zentralisation in der Erziehung, der Kultur. Das war auch in Kádárs Zeiten der Fall. Mein Problem ist, dass wir nicht frei geworden sind von dieser Vergangenheit. Die Vergangenheit ist ein Gespenst, das noch unter uns spaziert.

Ich habe schon vorhin erwähnt, Frau Heller, Sie werden am 12. Mai 85 Jahre alt. Sie sind körperlich und geistig fit wie ein Turnschuh. Welchen Hoffnungen hängen Sie noch an? Was könnte oder sollte aus Ungarn werden?
Ich möchte in Ungarn eine demokratische Republik sehen. Ich möchte, dass die Ungarn sich langsam an den demokratischen Geist gewöhnen und anfangen, sich als Demokraten zu benehmen. Ich kann in der ganzen Welt leben. Ich habe einen australischen Reisepass, ich habe die Greencard in den USA, ich habe Freunde in Institutionen, wo ich arbeiten kann. Ungarn ist meine Heimat, wenn ich als Staatsbürger handeln und diskutieren kann, werde ich es fortsetzen. Nichts was man tut ist ohne Erfolg. Man braucht sich nicht immer um alle Niederlagen zu kümmern. Mal kommt die Niederlage und vielleicht steckt etwas Gutes in der Niederlage. Ich kann Ihnen sagen, das war meine Stimmung nach 1956. Damals glaubte ich, wir sind in einem schwarzen Tunnel. Nie werden wir aus diesem Tunnel herauskommen. Wir sind herausgekommen. Und als ich damals aus all meinen Stellungen herausgeschmissen wurde, und die Leute mich auf der Straße nicht mehr gegrüßt haben, denn sie fürchteten sich davor mich zu grüßen, hatte ich das interessante Gefühl, das kann günstig für mich sein. Die Geschichte von unserem biblischen Josef, man muss doch von den Brüdern beinah getötet werden, um später in Ägypten dem Pharao einen guten Rat zu geben. Ich glaube nicht, dass ich dem Pharao einen guten Rat gegeben hätte, aber dass man zu eitel wird, wenn man immer dort oben sitzt. Zwischen 1953 und 1956 haben alle Menschen mir geschmeichelt. Man darf die Schmeicheleien nicht ernst nehmen. Man muss lernen auf dem eigenen Fuß zu stehen. Was man gelitten hat, kann zu einem Erfolg führen. Man kann immer etwas lernen von der Niederlage, man kann vielleicht etwas besser verstehen, wir können uns vielleicht auch ein wenig besser verstehen, obwohl wir uns selber nie wirklich verstehen werden. Das ist selbstverständlich.

Und jetzt sagen Sie mir noch eines Frau Heller: was ist denn - und das ist schon fast eine Muss-Frage an eine Philosophin, zumal an Sie, Frau Heller - was ist denn der Sinn unseres Lebens?
Man muss das Leben lesen und schreiben. Ich lese immer und ich schreibe immer. Ich schreibe ein Buch. Wenn ich es fertig geschrieben habe, ich habe eine autobiografische Erinnerung geschrieben, muss ich schon das nächste Buch schreiben. Ich muss immer etwas Neues, Anderes denken, nicht dasselbe durchdenken. Das ist schon langweilig. Wenn ich schon etwas durchgedacht habe, werde ich es nicht mehr durchdenken. Das ist schon die Vergangenheit. Aber ich möchte etwas Neues denken, etwas Neues erfahren. Das ist immer der Fall, solange ich lebe, werde ich es immer tun.