Flüchtlingskinder im zweiten Weltkrieg

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Roman

"Mein Name ist Judith" von Martin Horvath

Der 1967 in Wien geborene Martin Horvath, freischaffender Musiker und Autor, hat am New Yorker Leo Baeck Institute gearbeitet, einer Forschungsstätte für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums. 2012 erschien sein vielbeachteter Roman "Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten" über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Wien. Nun wurde sein zweiter Roman "Mein Name ist Judith" veröffentlicht.

Schriftsteller sind ständig von Wesen umgeben, die nicht aus Fleisch und Blut sind. Wesen, die ihrer eigenen Fantasie entspringen und über Monate, manchmal Jahre ihren Spuk treiben. Wesen, die, bevor sie nicht endgültig zwischen zwei Buchdeckeln gebannt sind, allein für ihre Erfinder sichtbar sind. Schriftsteller erschaffen etwas, wo vorher nichts war, verleihen diesem Etwas Gestalt. "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei mir, (…) und alles, was ist, ist durch das Wort geworden", schreibt Martin Horvath in Anlehnung an das Johannesevangelium zu Beginn seines Romans und hebt damit den Autor in den Rang Gottes.

Gott spielen

"Jedes Schreiben ist für mich auch immer ein Ausloten dessen, was ist Realität, was ist Fiktion und wie geht man damit um?"
Martin Horvath

Die Welt, die Martin Horvath erschafft, ist von unserer nicht allzu weit entfernt: Wir schreiben das Jahr 2023. Nach einer Phase der rhetorischen Aufrüstung ist die Gesellschaft endgültig im postdemokratischen, autoritären Zeitalter angekommen. Der Schriftsteller Leon Kortner hat seine Frau und seine achtjährige Tochter bei einem Terroranschlag am Wiener Hauptbahnhof verloren. Seither lebt er zurückgezogen, umgeben bloß vom Figurenpersonal seiner eigenen Buchprojekte: Er recherchiert das Schicksal einer jüdischen Familie, die zuvor in seiner arisierten Wohnung gelebt hat.

Spiel mit Geschichte

Als eines Tages ein altmodisch gekleidetes Mädchen in seiner Küche auftaucht und behauptet ihrem Vater gehöre die Buchhandlung unten im Haus, ist er gar nicht sonderlich schockiert. Judith, so der Name des Mädchens, muss zur vertriebenen Familie gehören. Er beginnt zu erzählen und schafft so für das verängstigte Kind eine andere, weniger schreckliche Wirklichkeit. Der Roman wird zum Spiel mit erfunden und historischen Realitäten.

"In dem Buch spiel ich damit, was wäre gewesen, wenn der soganannte Madagaskar-Plan tatsächlich ausgeführt worden wäre."
Martin Horvath

Der Schriftsteller im Buch macht dem kleinen Mädchen vor, ihre Eltern würden noch leben und schickt ihr Briefe aus Madagaskar. Der Autor Martin Horvath wiederum montiert noch viele weitere Kurzgeschichten in die Haupthandlung, in denen er die Frage "Was wäre, wenn?" weiterspinnt. Was wäre gewesen, wenn man Hitler für seine abstrusen Ideen nur verlacht hätte? Was wäre gewesen, wenn man Judith mit dem Kindertransport nach Großbritannien und nicht in die Niederlande geschickt hätte? Hätte sie dann überlebt? Auch anhand des Protagonisten zeigt der Autor, wie oftmals kleine Zufälle die Biografie prägen.

Buchumschlag

PENGUIN VERLAG

Damals und Heute

Die Gegenwart des Ich-Erzählers, seine Träume und Albträume, seine Einbildungen, seine erfundenen Geschichten und auch die Gegenwart des Lesers überlagern sich und werden dadurch unmittelbar begreiflich. Die letztendlich zentrale Frage, wie hätte man sich damals selbst verhalten, wird dadurch unausweichlich. Hätte man die jüdische Familie versteckt? Und wie verhält es sich heute? Soll man einem von der Abschiebung bedrohtem Flüchtling Unterschlupf gewähren und sich damit strafbar machen? Die Parallelen der Flüchtlingskrisen von damals und heute werden einem im Roman deutlich vor Augen geführt.

Aus Geschichte lernen

Der Schriftsteller Leon Kortner will die Geschichten der Geister, die ihn aufsuchen, aufschreiben, bevor es endgültig zu spät ist. Auch Martin Horvath glaubt an die Kraft der Worte und so ist sein Roman als eindringlicher Appell zu lesen, als Aufforderung sich mit der Geschichte zu beschäftigen, bevor sie sich wiederholt.

"Mir ging es darum, nicht nur dieser vertriebenen Familie ein literarisches Denkmal zu setzen, sondern sie zumindest mit den Mitteln der Literatur wieder dahin zurückzuholen von wo sie vertrieben wurden, nämlich nach Österreich."
Martin Horvath

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