Jäger im Schnee

KHM WIEN

Ö1 Kunstgeschichten

"Höchstsommer" von Dieter Sperl

Pieter Bruegels Gemälde "Die Jäger im Schnee" stammt aus dem Jahr 1565, in Europa herrschte damals die so genannte "Kleine Eiszeit". Dieter Sperl nimmt in seinem Text das bekannte Gemälde des niederländischen Renaissancemalers zum Anlass, um über Jahrezeitenwahrnehmungen und Klimaveränderung zu schreiben. Seine Schwarzweißversion des bekannten Bildes entstand spielerisch mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms auf dem Smartphone. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Edith-Ulla Gasser.

Dieter Sperl

ALAIN BARBERO

Dieter Sperl, Jahrgang 1966, wurde in Wolfsberg geboren. Für den ORF realisierte der Autor zuletzt eine O-Ton-Hörstück-Trilogie, die die Frage der menschlichen Identität auf philosophische Weise umkreist. Dieter Sperl lebt in Wien. Neben etlichen Buchveröffentlichungen, darunter das Filmtagebuch "Random Walker", ist er auch Herausgeber des Literaturfolders "flugschrift" und gründete 2018 den "Buddha Fight Club", ein Kunstprojekt mit dem Untertitel "Kämpfen ohne zu kämpfen".

Im Hochwinter
Bei Plusgraden
Ohne Schnee
Und das seit Jahren
Seit gefühlten zwanzig Jahren
Geht das so
Plusgrade im Winter
Ein zwei kalte Tage
Wenn es hochkommt
Das war es dann aber auch schon
Mit dem Winter

Ein ständiger Hochsommer
Und eine Übergangszeit
Ist uns geblieben
Mit den Übergangsschuhen
Und den Übergangsmänteln
Kein Spätwinter mehr
Kein Vorfrühling
Geschweige denn ein Frühsommer
Oder Spätherbst

Zeichnung

SPERL

Stattdessen Hoch-
Und Höchstsommer
Mit Dürren
Hagel
Starkregen
Und Murenabgängen
Wohin wir schauen
Dauerregen
Und Blitzeinschläge

Wir sind die Taktgeber
Dieser Katastrophen
Sind das Verhalten
Das diesen Extremismus
Hervorruft
In jedem Satz
Lauern wir als Welt-Untergang
Im darauffolgenden
Als Überhitzung
Und Überschwemmung
Als Raubzüge
Und Müllberge
Leergefischte Meere
Und abgeholzte Wälder

Alarmbereitschaft
Rund um die Uhr
Ist unser Zuhause geworden
Längst gibt es keinen Winter mehr
Nur die Aufgebrachtheit
Unserer Vorstellungen
Und den Wahnsinn

Im Sommer
An den Winter
Denken
Das liebte meine Frau
Im Hochsommer
An den Winter
Denken
Meine Frau
Mit ihren weißen Armen
Und Beinen
Gesichtscreme
Und Sonnenbrille
Ihre ständigen Begleiter

Dazu selbstverständlich ihre Bücher
Heraklit liebte sie
Ebenso wie Basho
Laotse und Theresa von Avila
Meine Irmi
Mit den Miu Miu-Sonnenbrillen
Sie dachte im Hochsommer
An den Winter
Dachte im Hochsommer
An den Kohlenmann
Der einmal im Jahr
Einen Berg Kohle vor dem Haus ablud
Den ich dann in den Keller trug
Eine gefühlte Ewigkeit ist das jetzt her
In jeder Hand
Einen Kübel
Voll mit Kohlen
Bis wir uns nach 25 Jahren eine Zentralheizung leisteten
Trotzdem wartete ich noch mehrere Sommer lang auf den Kohlenmann
Und seinen Steinkohleberg

Cornelius Obonya

ORF

Cornelius Obonya, 1969 in Wien geboren, stammt aus einer Schauspielerfamilie. Seine Eltern sind Elisabeth Orth und Hanns Obonya, der bereits 1978 starb, seine Großeltern mütterlicherseits waren Paula Wessely und Attila Hörbiger. Seit 2000 tritt Cornelius Obonya regelmäßig am Wiener Burgtheater auf, er spielte an der Schaubühne am Leniner Platz, war der "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen, bestritt zahlreiche Produktionen als Musical-, Film- und Comedydarsteller und lieh vielen Hörfunksendungen seine markante Stimme.

Die gesamte Vorweihnachtszeit
Vor den Jägern im Schnee verbringen
Im Kunsthistorischen Museum
An den Vormittagen
Den Winter
Imaginieren
Mit den Jägern
Heimkommen
Schlittschuhlaufen
Verloren gehen
Im Schneefall
Dorffeste
Feiern
Und Eisstock schießen
Schneebälle werfen

Mit dem Leben
Beginnt ein Feuerwerk
Ausgefallener Situationen
Die sich endlos aneinanderzureihen scheinen
Taufen
Und Hochzeiten
Firmenausflüge
Die Bauern bei der Ernte
Konsumenten beim Einkauf
Unsere Gewohnheiten verkleidet
Als Stadtfeste und Tennisturniere
Die Wiener Philharmoniker vor dem Rathaus
Die Wiener Philharmoniker in Schönbrunn
Donausinselfeste
Und Steirer-Bälle
Vorarlberger-Bälle
Kaffeesieder-Bälle

Die ausgefallenen Situationen
Leben ihr Leben in uns
Die ausgefallenen Situationen
Breiten sich aus
Beginnen sich mit den Jahren zu wiederholen
Sich immer ähnlicher zu werden
In ihren Hoffnungen
Ereignissen
Und Erlebnissen
In ihren Auswirkungen
Bis sie zum Stillstand kommen
Bis sie in ihrer Ähnlichkeit aufgehen
In der Wiederholung ihre Kräfte verlieren
Sie folglich der Tod unterbricht

Der Tod unterbricht uns
Hat meine Frau gesagt
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit
Der Tod unterbricht unsere fortlaufende Selbst-Erzählung
Der Tod unterbricht unsere fortlaufende Selbst-Affirmation
Damit wir wissen
Wer wir sind
Und wohin wir gehören
Und wohin wir gehen
Und woher wir kommen
Schlaf und Tod sind es
Die unsere Verstandes-Überhitzung
Unterbrechen
Schlaf und Tod sind es
Die den Verstandes-Betrieb
Aussetzen
Dieses beständige
Mehr-Sein-Wollen
Und Mehr-Haben-Wollen
Das die Menschen erschöpft
Das sie in den Wahnsinn treibt
Oder in die Depression

In Wahrheit können wir gar nichts erreichen
Was wir nicht längst schon sind
So die Irmi
Ich habe mich oft gefragt
Warum sie mich geheiratet hat
Ausgerechnet mich
Einen Schauspieler
Jeder Satz ist deine Entscheidung
Und jeder Satz ist deine Erfindung
Ich weiß nicht wie oft sie das wiederholt hat
Und dass jeder Satz sein eigenes Höchstes ist
Und dass jeder Satz sein eigener Abgrund ist
Dass jeder Satz zu seiner eigenen Blüte führt
Und in sein eigenes Nichts zusammenfällt

Meine Frau
Die Philosophin
Und ich ihr
Volksschauspieler
Wie sie mich liebevoll genannt hat
Noch bevor sie wusste
Dass ich tatsächlich Volksschauspieler war
Von unserer ersten Begegnung an
War meine Frau für den philosophischen Part
In unserer Beziehung zuständig
Und ich für den dekorativen
Ihr Kopf diente dem Leben
Meiner der Dekoration

Ob wir von Schnee sprechen
Oder von Kälte
Von Jägern
Atomen
Atmosphären
Oder Finanzflüssen
Von unserer Geburt
Dem Tod
Der Kälte
Ist dabei völlig egal
Hat sie gesagt
Jeder Satz ist eine Scheidung
Jeder Satz seine eigene Entscheidung
Jede Entscheidung ist seine eigene Begrenzung
Und jede Begrenzung seine eigene Ausfransung

Die Begrenzungen machen das Spiel aus
Die Überschreitungen unsere Lust
Die größte Angst entsteht
Wenn wir uns einbilden
Mit der Sprache
Auch das Leben
Kontrollieren zu können
Eingebunkert
Hinter den Mauern der Sprache
Dass ich nicht lache

Materialismus ist keine Entdeckung
Materialismus ist deine Entscheidung
Einer ihrer Lieblingssätze
Verstehst du was ich damit meine
Arnold
Nein
Verstehe ich nicht
Gab ich zur Antwort
Ich kann mich heute noch hören
Wie ich diesen Satz gesagt habe
Nein
Verstehe ich nicht
Woraufhin sie nachsetzte
Auch das Nichts kann man nicht entdecken
Auch das Nichts ist deine Entscheidung
Arnold
Selbst das schwarze Loch ist deine Entscheidung
Unsere Sucht
Eine Entscheidung
Die wir lieben
Die Spaltung
Abspaltung
Als Entscheidung
Die Separation
Vom Ganzen
Das als Ganzes
Eine Entscheidung ist
Die die Welt
In Gang bringt
Sie in Rage versetzt

Anziehungskräfte
Wohin wir uns bewegen
Auf dem Hauptplatz
Dem Nebenschauplatz
Dem Eislaufplatz
Der Dunkelheit
Die menschliche Existenz
Ist in ihrem Wesen
Exzentrizität
Fast unser ganzes Leben
Verbringen wir
In einem zum Wahnsinn neigenden Gehabe
Verfangen in einem irren Gelabere
Ununterbrochene
Beschäftigung
Mit allem nur Erdenklichen
In unserem Kopf

Die Jäger mit den Hunden
An einem Wintertag
Eislaufplätze
Berge
Und Schnee
Die Stille des Bildes
Seine Sehnsucht
Die immer auch
Meine Sehnsucht ist
Auf der Suche
Nach uns selbst
Im Bild
Und dem Bild
Im Selbst
Die Jäger
In unserem Kopf
Festgefroren
Für einen Blick
Um unsere Träume
Zu jagen
Gehen wir weiter
Ohne Schatten
Zu werfen
Die bunten Lampions
Beleuchten
Unsere Wünsche
Auf den Weihnachtskarten
Kommen wir
Mit den Jägern
Ins Bild
Den Hügel herunter
Ausgemergelte Kreaturen
Die Hunde
Und Menschen
Mit gesenkten Häuptern
Die Stadt am zugefrorenen Meer
In weiter Ferne
Alles zugefroren
Der Tag ist zugefroren
Und das Meer
In der Dunkelheit
Unseres Selbst
Das Meer
Liegt verlassen da

Aber manchmal
Gleich nach dem Aufwachen
An manchen Tagen
Wenn wir nicht wissen
Wo wir sind
Und wenn wir nicht wissen
Wer wir sind
Bevor der Kopf
Seine sieben Sachen
Zusammengeklaubt hat
Dann ist es da
Unser Zentrum
Dann ist es da
Weil plötzlich wir
Zum Rand
Geworden
Sind
Personen
Konstrukte
Als Rand
Existenzen
Auf den Bildern
Unserer Wünsche
Und Vorstellungen
Wenn wir nicht aufpassen
An manchen Nachmittagen
Langsame Schatten werfen
Allein gelassen
Dann ist sie da
Diese Lust
Sich selbst anzuzünden
Dann ist sie da
Diese Lust
Sich selbst anzufeuern
Als Dichter
Oder Torwart
Managerin
Oder Kellnerin
Als Müllmann
Oder Kriegerin
Ewig
Diese Rollen
Weitergegeben
Verteilt
In uns
Ohne uns
Den Spielverderber
Aus dem Ort
Vertreiben wir
Mit Mistgabeln
Legionen von Spielverderbern
Auf dem Scheiterhaufen
Entsorgt
Die Melancholie
Des Alleinseins
Schon in jungen Jahren
Gespürt
Die Trennung ist es
Die unsere Sehnsucht schürt

Lass das
Habe ich zu meiner Frau gesagt
Und ihr die Kohlenschaufel
Aus der Hand genommen
Ich mache das für dich
25 Jahre Kohlenschaufeln
Um den Winter auszuhalten
In unserer Altbauwohnung
Den Winter
Den sie so liebte
Meine Frau schaufelte die Steinkohle in Kohlenkübel und Säcke
Und ich schleppte die Kohlenkübel und Säcke in den Keller
Und lagerte sie dort ein
25 Jahre lang wiederholte sich dieses Spektakel
Plötzlich lag der Haufen Kohle vor der Tür
Mitten im Sommer lag der Kohlenhaufen vor der Tür
Lass das
Ich mache das
Als die Irmi meistens schon in der Arbeitsmontur dagestanden ist
Und mir einen Sack in die Hand gedrückt hat
Ich kann den Kohlenmann heute noch vor mir sehen
Dem es Freude bereitet hat
Die Kohlen bei uns abzuladen
Und möglichst viel Staub aufzuwirbeln
Der Kohlenmann hat uns ausgelacht
Weil wir zu den letzten gehörten
Die dieses Kohlenschaufeln veranstalteten

Kaum war der Sommer da
Dachte meine Frau an den Winter
War der Sommer auf dem Höhepunkt
Rief sie den Kohlenmann an
Schon Stunden vorher
Hörte sie den Wagen heranfahren
Schon Stunden vorher
Hörte sie das Herunterrumpeln der Kohlen
Mehrere Stunden
Bevor der Wagen tatsächlich vorfuhr
Saß sie in ihrer Arbeitsmontur zu Hause
Zwei Stunden Kohlenschaufeln
Und ich habe nicht einen Kilo weniger
Sagte sie als ob es gestern gewesen wäre
Das Gewicht kommt nicht
Von heute auf morgen
Es schleicht sich an
Man merkt es nicht
Ein Pfirsich hier
Ein Pfirsich dort
Dann ist es da
Dann steht es
Das Gewicht

Der Kohlenmann sagte
Dass er sich freue
Wenn die Sonne
Ganz
Im Sommer
Angekommen ist
Beginnen die Menschen
An den Winter zu denken
Sagte der Kohlenmann
Auf dem Höhepunkt des Sommers
Denken die Menschen an den Winter
Auf dem Höhepunkt des Sommers
Werde ich angerufen
Um sie auf den Winter vorzubereiten
Ein halbes Jahr Winter
In diesem Land
Trübe und trostlose Tage
Schneefall
Kaum Menschen
Auf der Straße
Fast still
Die Wintersonne
Unauffindbar
Das liebte meine Frau
Der da liegt wieder auf dem Eis
Auch der dünne Hund ist noch da
Und der
Der so allein vor sich hin läuft
Mit einem Eishockeyschläger
Da wird mir jedes Mal ganz warm ums Herz
Dass die das damals schon gespielt haben
Mit ihren Schlittschuhen
Aus Knochen

Überall diese Stille
Zwischen uns
Die ganze Existenz
Als Stille
Aus der wir kommen
Mit jedem Schritt
Aus der Mitte
Ihre erste Erinnerung
Vor dem Haus der Eltern
Mit den Geschwistern
Ein Iglu bauend
Dichte Schneeflocken
Die vom Himmel kamen
Geräusche beseelt
Von Ewigkeit
Zugleich
Drinnen
Und
Draußen
Gast
Und
Gastgeber

Bei jedem Schritt
Dieser Wunsch
Nach einem frostigen Januar
Und einem schneereichen Februar
War typisch für meine Frau
Auch der Bauernbruegel liebte den Schnee
Und malte das erste Winterbild der Kunstgeschichte
Wie ich weiß
Der Bauernbruegel liebte den Dorfplatz
Andere Maler erzählten von
Jesus am Kreuz
Von Maria Himmelfahrt
Von Göttern und Dämonen
Und Helden
Malten Selbstporträts
Und Palazzi
Rathäuser
Und Prunkbauten
Porträtierten hochgestellte Persönlichkeiten
Die Namenlosen
Und Bauern
Landarbeiter
Und Handwerker
Ihre Dörfer
Behausungen
Ihr Treiben
Diese Wildheit
Als Aussichtslosigkeit
Dem Moment geschuldet
Galt ihnen nichts
Aber der Bauernbruegel liebte sie
Der Bauernbruegel liebte den Dorfplatz
Der war ihm wichtiger
Als Maria auf dem Esel
Die Vögel auf den Bäumen wichtiger
Als die Weisen aus dem Morgenland
Winternachmittage
Frost
Die bis zu einem Meter langen Eiszapfen
Schlittenfahren
Raureif
Jahreswechsel
Bratäpfel

Auf dem Höhepunkt des Sommers
Rief die Irmi den Kohlenmann an
So war sie
Meine Philosophin
Heute fährt man zum Baumarkt
Oder kauft die Briketts im Supermarkt ein
Und kriegt obendrein einen Kaffeegutschein
Ich erinnere mich noch gut
Dass sie mir ständig eingetrichtert hat
Dass ich meinen Traum durchsetzen muss
Du musst deinen Traum durchsetzen
Musst ihn gegen
Die Träume der anderen
Behaupten
Du musst deine Schauspielerexistenz
Gegen den Willen der anderen
Schauspielerexistenzen
Verteidigen
Denn die anderen werden versuchen
Deinen Traum zu verhindern
Sie werden versuchen ihn zu zerstören
Um ihren Traum zu errichten
Keine Sekunde darfst du davon ablassen
Hörst du
Arnold
Denn wenn du einmal angezählt bist
Ist es aus mit dir
Und deinem Traum

Jeden Tag hoffe ich
Dass es endlich aus ist
Mit mir und meinem Traum
Der allein gelassen
Auf dem grauen Diwan
Im Bruegel-Saal sitzt
Und dessen Winter-Bild anschaut
Jeden Tag
Die ganze Vorweihnachtszeit lang
Keine Ahnung
Was die anderen hier wollen
Von den Bildern
Vor denen sie ein paar Sekunden herumstehen
Vielleicht ein Selfie machen
Und dann weiterziehen
Zum nächsten Bild
Im Schneetreiben
Verloren gehen
Das jedenfalls will ich
Vor das Kunsthistorische Museum treten
Zum Ring hinübersehen
Die Straßenbahnen
Im Schneegestöber
Langsam
Dahinfahren
Sehen
Auf einer Parkbank
Eingeschneit werden

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