Mann sitzt am Osloer Hafen

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Kleine und große Lebenskrisen

Literarische Rundreise: Norwegen

Norwegen ist als eines der wohlhabendsten Länder der Welt, das die sprudelnden Einnahmen aus der Erdölförderung klug investiert hat. Viele haben profitiert, auch die Schriftsteller im Land. Ein einmaliges Fördersystem sorgt dafür, dass sich Autoren in Ruhe entwickeln können. Mit Erfolg: Autoren wie Jostein Gaarder, Karl Ove Knausgard oder Per Petterson sind international vielgerühmte Stars.

Ex libris | 29 09 2019
Holger Heimann

Rund 250 Titel wurden nun anlässlich der Frankfurter Buchmesse neu ins Deutsche übersetzt, eine enorme Zahl. Der Bücherherbst bietet somit die Gelegenheit, auch neue Stimmen aus Norwegen kennenzulernen. Holger Heimann hat mit bekannten und noch weniger bekannten Schriftsteller/innen gesprochen - über ihre Bücher und darüber, ob es die Norweger besser haben als der Rest der Welt.

"Ich glaube, die Norweger sind glücklich." Jostein Gaarder

Jostein Gaarder

Jostein Gaarder

AFP/ATTILA KISBENEDEK

Im jährlichen "World Happiness Report" der UN, auf den sich Jostein Gaarder, der vielleicht bekannteste norwegische Schriftsteller, vermutlich bezieht, rangiert Norwegen mal auf Rang eins, mal auf Rang drei - hinter Finnland und Dänemark. Viele blicken bewundernd gen Norden - auf ein Land, das seinen Reichtum gerechter verteilt hat als andere, auf grandiose Landschaften und unberührte Natur.

Mona Hovring

Viele Romane, die jetzt ins Deutsche übersetzt wurden, malen keineswegs das Bild einer Idylle, sondern beharren eigensinnig auf einer individuellen Perspektive. Ihrem eigenen Herzen folgt zum Beispiel Mona Hovring. Die 56-jährige Schriftstellerin mit den markanten kurzen weißen Haaren hat als Lyrikerin begonnen. Ihre mittlerweile vier Romane kreisen allesamt um Lebenskrisen, heile Welten sucht man bei ihr vergeblich.

Hovrings aktueller Roman "Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte" erzählt von der engen, aber schwierigen Beziehung zweier Schwestern, die von der Jüngeren aufgekündigt wird. Mona Hovring entfaltet auf knappem Raum eine Emanzipationsgeschichte, die durch einen unbeschwerten Umgang mit Sexualität geprägt ist. Im leidenschaftlichen Begehren, oft sind es in ihren Romanen Frauen die Frauen lieben, sollen ihre Protagonistinnen zu sich finden.

Wir haben eine Art Ökosystem rund um die Literatur in Norwegen.

Per Petterson

Das Problem von Arvid Jansen in Per Pettersons Roman "Männer in meiner Lage" ist seine Frau Turid. Sie hat ihren Mann nach 19 gemeinsamen Jahren verlassen und die drei kleinen Töchter mitgenommen. Entfaltet wird diese Geschichte einer Trennung aus der Rückschau. Im fein austarierten Wechsel erzählt Arvid von der Ausnahmezeit nach dem Ende der Ehe und den letzten Wochen einer beschädigten Zweisamkeit, da er es längst vorgezogen hatte im vor dem Haus geparkten Auto zu schlafen statt neben seiner Frau. Doch das ändert sich nach ihrem Auszug. Wenn er nachts in der halbleeren Wohnung aufwacht, hat er oft vergessen, dass im Bett auf der anderen Seite niemand mehr ist. Eine zweite Decke liegt weiterhin dort, weil sonst die Leerstelle noch offensichtlicher wäre.

Petterson ist ein Meister der leisen Melancholie, der wie kaum ein anderer fähig ist, die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen zu bringen. Sein aktueller Roman birgt viel Schwermut und doch ertrinkt er nicht darin. Zur entscheidenden Gegenkraft der Verzweiflung entwickelt sich die Offenheit Arvids. Er verstummt nicht und wird nicht blind für die Welt, die ihn umgibt. Doch zu den rundum glücklichen Norwegern gehört Arvid Jansen, bekannt schon aus anderen Petterson-Romanen, trotzdem ganz gewiss nicht. Per Petterson kann ohnehin nicht viel anfangen mit dem Zufriedenheitsbefund Jostein Gaarders.

"Da ist mehr Norwegen als Jostein sagt. Hier sind viele frustrierte Menschen. Was soll das heißen: glücklich? Dass man genug zu essen hat, Arbeit? Dass dein Baby nicht krank ist? Ich weiß es nicht. (…)" Per Petterson

Erik Fosnes Hansen

Vom sommerlich grünen Osloer Schlosspark aus, wo er gern mit seinem Hund Schampus spazieren geht, blickt der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen hinunter auf seine Heimatstadt. In bewundernswertem Deutsch, das er während eines zweijährigen Studienaufenthalts in Stuttgart gelernt hat, erzählt er vom Wandel im Land:

"Ich kann mich daran erinnern, dass Norwegen eine ziemlich nüchterne Gesellschaft war - in den 70er Jahren, als ich noch ein Kind war. Es war alles, nicht arm, aber ein bisschen heruntergekommen, grau, nüchtern, schlicht, einfach. (...) Inzwischen, wo das Land und die Leute so stinkreich geworden sind, ist das eine Tugend, die die Norweger fast vergessen haben. Jetzt prunkt man mit dem Wohlstand, mit den äußerlichen Zeichen des Wohlergehens."

Die Veränderungen, die das Land durchlaufen hat, greifen viele Autoren in ihren Romanen auf. Doch jeder Wandel kennt auch Verlierer. Von diesen erzählt Erik Fosnes Hansen, der mit seinem vielstimmigen "Choral am Ende der Reise" über die Mitglieder der Bordkapelle der Titanic international berühmt wurde, in seinem neuen Roman. "Ein Hummerleben" verfolgt den Niedergang eines mondänen norwegischen Berghotels in den 1980er Jahren. Die Gäste bleiben aus, weil sie den Süden entdeckt haben, aber der Hoteldirektor verweigert sich entschieden der Realität.

Roy Jacobsen

Veränderung, das ist gewissermaßen das Lebensthema von Roy Jacobsen. Der 65-jährige Schriftsteller hat die Biografie eines Abenteurers: Als Mitglied einer Jugendbande kam er noch als Teenager ins Gefängnis. Er war Walfänger, Lehrer und Waldarbeiter, bevor er zu einem der bekanntesten, mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftsteller in Norwegen wurde. Sich auf Deutsch zu unterhalten, bereitet auch Jacobsen keine Mühe. Er hat die Sprache durch die Romane von Günter Grass und seine Schwiegermutter gelernt, die aus dem östlichen Belgien stammt, erklärt er.

In seiner Romantrilogie "Die Unsichtbaren", die jetzt erstmals komplett auf Deutsch erschienen ist, erzählt er mit großer Ruhe von den Urgewalten der Natur und einer Fischerfamilie, die dem harten Alltag auf einer abgelegenen Insel mit stoischer Gelassenheit und geduldiger Arbeit begegnet. Es sind die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, doch das Inselleben ist eines jenseits der Zeit, reduziert auf das Notwendige und Existenzielle. Jacobsen selbst hat noch in den 1950er Jahren auf einer solchen Insel gelebt - in einem einfachen Haus, ohne Elektrizität. Von den einprägsamen Kindheitserfahrungen profitiert sein Roman, der implizit auch die Gegenwart im Blick hat.

Lars Mytting

Lars Mytting ist ein kräftiger, zupackend wirkender Mann im Holzfällerhemd, der als Journalist gearbeitet hat, bevor er anfing, Bücher zu schreiben, darunter auch den ins Deutsche übersetzten Bestseller: "Der Mann und das Holz - Vom Fällen, Hacken und Feuermachen". Mytting wohnt schon immer auf dem Land. Dort hat er auch den ersten Teil einer geplanten Romantrilogie angesiedelt, "Die Glocke am See". In einem abgeschiedenen Dorf in Mittelnorwegen leben die Menschen im späten 19. Jahrhundert wie die Bewohner Generationen vor ihnen. Von den Modernisierungsschüben, die das Leben in den großen Städten geprägt haben, ist nichts zu spüren.

Lars Mytting kennt die Gegend, über die er schreibt, seit seiner Kindheit. Er ist hier, unweit der verschlafen wirkenden Olympiastadt Lillehammer, aufgewachsen. Doch die norwegische Gegenwart hat wenig gemein mit dem Alltag vor weit mehr als einem Jahrhundert. Mytting hat sich deshalb nicht nur auf seine Vorstellungskraft verlassen, sondern ein Experiment gewagt, um sich ein Dasein vor Augen zu führen, das ungleich beschwerlicher war. Um sich in das Norwegen von 1880 zu versetzen, hat er immer wieder Zeit in einer Hütte ohne elektrisches Licht verbracht.

Simon Stranger

Während der 1976 in Oslo geborene Simon Stranger zuvor eher für ein kleines Publikum schrieb, katapultierte ihn der Roman "Vergesst unsere Namen nicht" über einen der bekanntesten norwegischen Kriegsverbrecher zu landesweiter Bekanntheit. Das Buch, das den Weg von Henry Rinnan, einem ruchlosen Kollaborateur und willfährigen Gestapo-Agenten, nachzeichnet, wurde im Vorjahr zu einem der am meisten diskutierten Titel. Auch Stranger glaubt, dass Norwegen der Zweite Weltkrieg weiter beschäftigen wird.

"Noch lange Zeit nach dem Krieg wurde über all das, was in Norwegen geschehen ist, nicht offen gesprochen. Natürlich waren auch zahlreiche Norweger Nazis. In vielen Familien wurde das tabuisiert, weil es zu beschämend war. Erst die Enkel können jetzt ohne Scham darüber sprechen."

Dass Simon Stranger bereits vor seinem Erfolg ohne Existenzsorgen in Ruhe schreiben konnte, verdankt er dem außergewöhnlichen norwegischen Fördersystem. Stipendien haben ihm über Jahre hinweg ein stabiles monatliches Einkommen garantiert, das er mit verschiedenen Zusatzjobs aufbessern konnte.

Ideale Rahmenbedingungen

Die großzügige Unterstützung für Schriftsteller spiegelt den hohen Stellenwert, den die Literatur in Norwegen traditionell hat, spielte sie doch im Prozess der norwegischen Identitätsbildung im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Die enorme Wertschätzung für Bücher zeigt sich auch in einer vermutlich weltweit einzigartigen Regelung: Der Staat kauft seit mehr als 50 Jahren von etwa 600 ausgewählten Novitäten alljährlich 555 bis 1.500 Exemplare und verteilt sie an die öffentlichen Bibliotheken im Land. Derzeit hat sich die Zahl bei 700 Exemplaren eingependelt. Die Bestimmung wurde zum vermutlich wichtigsten Baustein für ein prosperierendes Literatursystem und einen florierenden Buchmarkt.

In einem Land mit lediglich knapp über fünf Millionen Einwohnern und damit einer potenziell kleinen Leserschaft ist die Vereinbarung für viele Verlage überlebenswichtig, und sie hilft Autoren, die sich so ohne Druck entwickeln können. Dass in dem dünn besiedelten Land immer neue vielversprechende Schriftsteller heranwachsen, verdankt sich nicht zuletzt den wohl einmalig guten Rahmenbedingungen. Der Erfolg dieses Systems lässt sich auch außerhalb des Landes beobachten. Bücher gehören neben Erdöl und Trockenfisch längst zu den begehrtesten norwegischen Exportgütern. Vom Glück der Norweger erzählen die Romane selten, stattdessen von den kleinen und großen Krisen des Lebens.

Service

  • Mona Hovring, "Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte", Roman, aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen, Edition Nautilus
  • Per Petterson, "Männer in meiner Lage", Roman, übersetzt von Ina Kronenberger, Hanser
  • Erik Fosnes Hansen, "Choral am Ende der Reise", Roman, KiWi; "Ein Hummerleben", Roman, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, KiWi
  • Roy Jacobsen, "Die Unsichtbaren", Romantrilogie, übersetzt von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann, C.H. Beck
  • Lars Mytting, "Der Mann und das Holz - Vom Fällen, Hacken und Feuermachen", Kulturgeschichte des Holzes, Insel; "Die Glocke am See", Romantrilogie, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Insel
  • Simon Stranger, "Vergesst unsere Namen nicht", Roman, übersetzt von Thorsten Alms, Eichborn

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