Bild von Zacharias Heinesen

JOHANNA UHRMANN

Ö1 Kunstgeschichten

Erwin Uhrmann lebt in einem Bild von Zacharias Heinesen

Für Erwin Uhrmann sind die Färöer Inseln "der vielleicht fernste Ort", wobei Ferne nicht mit realer Entfernung gleichzusetzen sei, sondern eher mit einer "Illusion von Ortlosigkeit". Auf einer Reise ersteht der Autor eine Lithographie des Färöer Künstler Zacharias Heinesen und beschäftigt sich intensiv mit der dargestellten Landschaft. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Ich wache auf und beschließe, versteckt zu bleiben. Ein Freund hat mir einmal erklärt, dass bei jedem neuen Aufwachen wieder alle Lebensparameter in den Ausgangszustand zurückversetzt sind. Lediglich die unumstößlichen Tatsachen der Vortage sind noch da und bilden eine neue Entscheidungsgrundlage. Trotzdem weiß ich, was mich erwartet. Etwa, dass die Pflanze, die neben dem Bild steht, ihre Blätter nach außen dreht, sobald die Sonne aufgeht. Dabei raschelt sie so laut, dass es mich trügt und mir scheint, selbst aus einiger Entfernung, als ob der Wind ins Laub fährt. Nur gibt es hier kein Laub und keinen Baum. Deshalb weiß ich, dass dieses Geräusch von draußen kommt.

Während sich die Bewohner des Zimmers anziehen, bleibe ich in einem Versteck und warte. Es dauert nie lange. Das Schlafzimmer ist danach bis zum Abend verlassen. Wenn gelüftet wird, dann bleibt die Tür geschlossen, ansonsten ist sie offen. Es dringen nur selten Geräusche aus den anderen Räumen ins Schlafzimmer und bis zu mir durch.

Erwin Uhrmann

JULIAN TAPPRICH

Der Autor Erwin Uhrmann ist Jahrgang 1978 und lebt in Wien. Er leitete von 2011 bis 2016 das Literaturprogramm im Essl Museum, das sich an der Schnittstelle von zeitgenössischer Kunst und Literatur bewegte. Seit 2016 ist er Herausgeber der Reihe "Limbus Lyrik". 2010 erschien sein erster Roman "Der lange Nachkrieg". Danach folgten die Erzählung "Glauber Rocha" und die Gedichtbände "Nocturnes" und "Abglanz Rakete Nebel". Für seinen dystopischen Roman "Ich bin die Zukunft" war er auf der Shortlist für den Alpha Literaturpreis 2014. Zuletzt erschien sein Roman "Toko".

Ich darf vermuten was Sie sehen, wenn sie mein Zuhause betrachten: Sie sehen hohe Berge. Sie sehen lange Schatten auf steilen Hängen. Sie sehen Steine und sie sehen monströse Gräser. Sie sehen tiefe Furchen und ein enges Tal. Sie sehen Dächer, die vor ihren Augen zu schaukeln beginnen wie verwaiste Schiffe auf der Meeresoberfläche. Sie sehen eine längliche schmale Bucht. Sie sehen einen freien Himmelsausschnitt, der sich im nächsten Moment verfinstern könnte.

Wahrscheinlich ist meine Vermutung, was die Betrachterin oder der Betrachter dieses Bildes sieht, viel zu konkret. Denn jede und jeder sieht im Grunde etwas anderes. Was ich sehe ist das Detail, und hinter dem Detail wieder ein Detail. Mir fehlt momentan das Gesamtbild, weil ich keine Distanz dazu habe. So wie der Mensch keine Distanz zum eigenen Lebensraum hat. Dazu müsste man sich zumindest in die Erdumlaufbahn oder noch weiter wegbewegen.

Hoch am Himmel fliegen die Vögel ihre Manöver, in Formation und alleine. Verschwinden aus dem Bildausschnitt, einer nach dem anderen, stürzen an einem anderen Punkt des Bildes zurück. Die Möwen wohnen in den Felsen, ebenso wie die Papageientaucher. Ich nutze, was ich über die Inseln weiß, um den Inhalt des Bildes zu deuten. Also sehe ich die Papageientaucher in ihren Familienverbänden hinausfliegen aufs Meer, und nach Tagen des Futterfangs wieder zum Ufer zurückkehren und in den Felsnischen anlanden. Ihre Präzision ist erstaunlich. Gemessen an der Körpergröße müsste der Wind sie gegen die Felsen klatschen. Kurz bevor sie aufsetzen stehen sie flatternd in der Luft, kämpfen gegen Böen an, und treffen danach exakt ihren Landeplatz.

Bei den Möwen erscheinen die Nistplätze noch dramatischer. Durch ihre größere Statur wirkt es so, als würden sie in ihren winzigen Nestnischen in den steilen Felswänden kleben. Ganze Kolonien führen dieses riskante Dasein. Unten am Strand befindet sich jeweils eine vorsitzende Möwe, die von ein paar wenigen dienenden Möwen, ich nenne sie Minister, versorgt wird. Während diese herrschende Möwe auf einem vorgelagerten, aus dem Wasser ragenden Stein sitzt, und wenig von sich gibt außer ein paar Schnabelregungen, Krächzern und prüfenden Blicken, scheinen die Minister ständig in Erinnerung zu rufen, dass sie sind und wer sie sind.

Michael Dangl

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Michael Dangl, geboren 1968 in Salzburg, spielt seit seinem vierten Lebensjahr Theater. Nach verschiedenen Engagements in Deutschland ist der Schauspieler, bekannt auch aus Fernsehserien und Radioproduktionen, seit mehr als zwei Jahrzehnten Ensemblemitglied am Theater in der Josefstadt.

Im durchsichtigen Blau des Himmels tauchen dünne Wolkenhäute auf. Ich sehe ihnen zu, wie sie vorbeiziehen. Natürlich sind sie statisch, ist alles hier statisch, aber das Licht von außen führt ihre scheinbaren Bewegungen. Die Sonne glitzert in den blechernen Rohren, die aus den gemauerten Schornsteinen hochragen. Nur Minuten später setzt ein zarter Sprühregen ein, der solange angenehm bleibt, bis ihn eine Böe zerstreut. Das dauert niemals lange, denn der Wind ist nur für Sekunden abwesend. Stoß um Stoß bläst er durch die satten Wiesen und legt sich dicht an die Hausmauern. Er schaukelt jeden Gegenstand, dirigiert jede Bewegung. Sogar das Meer, das in alle Richtungen schwappt, gegen die steilen Felswände klatscht und schäumend davon abrinnt.

Ich weiß all das, weil ich die Inseln erlebt habe. Und jetzt, da ich mich in einem Bild befinde, das ein Stück ihrer Landschaft darstellt, spüre ich diesen omnipräsenten kalten Wind, die Feuchte, die wie ein Film auf den Steinen liegt, den moosweichen Boden, der meine Schritte zurückfedern lässt, das Salz in der Luft, das mit jedem Atemzug meine Lungen reinigt.

Mein Bild ist eines von vielen, das in einem kunstsinnig eingerichteten Schlafzimmer hängt. Das Licht kommt in den Raum und geht wieder. Es lehnt stundenlang an der Wand. Es drängelt und schlängelt durch die Ritzen, wenn das Rollo herabgezogen ist. An klaren Tagen liegt es über Stunden starr, und bewegt sich doch die ganze Zeit. Es wandert schnell.

Das ganze Leben außerhalb dieses Bildes folgt einem Zeitbegriff, der deshalb so mächtig ist, weil man sich allerorten darauf verständigt hat. Doch Zeit gibt es nicht. Sie ist eine Illusion. Spätestens seit Einstein müsste jede und jeder wissen, dass unsere Intuition kein geeignetes Mittel ist, um die Welt zu erfassen. Unsere Sinne können nur das begreifen, was sie auf der ersten Ebene wahrnehmen. Das weiß ich jetzt, wo ich in diesem Bild bin, das im Grunde nur Raum ist.

Ich kann Geräusche der Welt außerhalb des Bilderrahmens wahrnehmen, wenn auch nur gedämpft. Wenn das Fenster gekippt ist, dann höre ich die Einsatzfahrzeuge, ohrenbetäubend laut, oder das Hupen, das Vorbeiziehen der Fahrzeuge, den Stadtlärm. Das passt nicht zu dieser Landschaft hier bei mir. In diesen lauten Momenten wünsche ich, ich würde mein Leben in einem Bild im Kunsthistorischen Museum fristen, in der Winterlandschaft von Brueghel oder in einem Raum von Vermeer. Aber nein, wie langweilig wäre so ein altes Ölbild. Außerdem habe ich keine Ahnung, ob es funktionieren würde.

Der Bildrahmen ist die Troposphäre meiner Welt. Wenn es draußen hell ist, dann ist es hell in meinem Bild. Wenn der Rahmen eine Staubschicht hat, dann wird es bei mir trüb. Das Licht verhält sich hier anders, als es die Natur vorgab in dem Leben, das ich außerhalb des Bildes führte. Hier bin ich auf den Raum einer privaten Wohnung angewiesen. In den heißen Sommern ist es tagsüber dunkel. Man finstert den Raum ab. Die Wohnung ist generell kühl. In den Wintern wird das Schlafzimmer weniger beheizt, somit stellen sich annähernd jene Verhältnisse ein, die für die dargestellte färöische Landschaft angemessen sind. Im Frühjahr, wenn die Tage länger werden, erreicht mich bei offenem Fenster etwas Nachmittags- und Abendsonne.

Der Dämmerzustand des Schlafraumes ist für mich von Vorteil. Nur kann ich nicht wissen, wie lange das Bild noch an diesem Ort hängen wird. Es könnte jeden Tag bewegt werden, von der Wand fallen oder ausgerahmt werden. Das wäre der schlechteste Fall, denn damit hätte ich keinen Schutz mehr. Ich weiß, dass Bilder auch in Mappen gelagert werden. Mir hilft die Tatsache, dass der Künstler, Zacharias Heinesen, kein Unbekannter ist. Solange die Besitzer des Werkes das wissen, werden sie das Bild pfleglich behandeln.

Zacharias Heinesen lebt in Torshavn. Auf den Färöern wurde er geboren und dort hat er das Bild geschaffen, in dem ich lebe. Heinesen beschäftigt sich ein Leben lang mit der Landschaft. Aus meiner Sicht kann ich behaupten, er hat sie erfunden. Diese Inseln, hauptsächlich von Schafen bewohnt, schienen mir der fernste Ort der Welt zu sein. Ist es denn sinnvoll, ein Flugzeug zu nehmen, oder eine mit Schweröl betriebene Fähre und bis auf die Färöer zu fahren, um die Gier nach Ferne zu stillen? Aus dem Bild heraus behaupte ich, es war sinnvoll, dort hinzureisen und zu verschwinden. Im Bemühen, es richtig zu machen, habe ich etwas falsch gemacht und bin hier gelandet, was mir wieder richtig erscheint. Ist das ein dialektischer Prozess? Oder eine Selbsttäuschung mit ungewissem Ausgang? Ich weiß es nicht. All das entspringt meinen innersten Zweifeln.

Bis die Wikinger kamen, wahrscheinlich im vierten Jahrhundert, war der Mensch diesen Inseln fern. Doch kamen und fuhren sie mit ihren Schiffen. Ebenso wie eine Gruppe irischer Mönche, die in der Einsamkeit die Natur studierten, ehe sich der Legende nach der Wikinger Grimur Kamban im Norden der Ostinsel, ganz in der Nähe des höchsten Berges, niederließ. Auch wenn ich mich in meiner andauernden Einsamkeit gelegentlich in ein Wimmelbild wünsche, muss ich mir eingestehen, dass ich dem dringenden Verlangen nachgegangen bin, das auch viele andere Menschen haben: aus dem Leben zu fliehen ohne es zu verlieren.

Franz Kafka wünschte sich, wie er seinem Freund Max Brod mitteilte, täglich zu den Sternen, um fern zu sein. Hätte er gewusst, dass es möglich ist, in ein Bild zu gehen, er hätte es gemacht. Oder nein, er hätte davon geschrieben, es zu machen, und hätte es dann gemacht.

Warum habe ich mich in dieses Bild begeben? Ich weiß es nicht. Unlängst habe ich in den Himmel geschaut und mir ist eingefallen, dass mich als Kind Selma Lagerlöfs Figur des Nils Holgersson fasziniert hatte. Fingergroß konnte er auf dem Rücken einer weißen Gans ganz Schweden bereisen. Zwar musste er der Wildgansroute folgen und war der Gänseschar und ihren Reiseplänen ausgeliefert, doch er war frei von den Zwängen des Alltags.

Im Jahr 2014 startete der Kunstsammler Karlheinz Essl mit seinem Projekt "Silence" einen verwegenen Versuch. Er suchte ein abstraktes Werk aus seiner Kunstsammlung aus und ließ es in den großen Saal des von ihm gegründeten Museums hängen. In wenigen Metern Abstand platzierte er einen bequemen Ohrensessel. Dann setzte er sich vor das Werk und betrachtete es. Er ließ sich Zeit, eine ganze Stunde lang. Üblicherweise, hatte er herausgefunden, betrachtet eine Museumsbesucherin oder ein Museumsbesucher ein Werk drei Sekunden lang. Der Kunstsammler, der sein Leben lang seinen Blick auf Kunstwerke trainiert hatte, forderte sich nun 3.600 Sekunden ab. Er beschrieb danach das Gesehene so, dass man vermuten wollte, sein Sehsinn und sein Bewusstsein hätten eine Erweiterung erlebt.

Der Sammler sah bei seinem Experiment tief in das Bild hinein. Ich sehe, wenn ich unvorsichtig bin, heraus: aus dem Rahmen, über den Bildrand. Weit in die Ferne sehe ich nicht.

Wenn Menschen zu nahe kommen, um das Bild zu betrachten, oder sich ein Buch aus dem Bücherregal holen, das neben dem Bild steht, ziehen ihre Köpfe wie Asteroiden an meiner obersten atmosphärischen Schichte vorbei. Die Menschen sind sogar voneinander unterscheidbar. Die Himmelserscheinungen haben für mich jedoch keine Bedeutung mehr.

Über den Rand hinaus kann ich keinen Einfluss mehr auf die Welt und die Zustände außerhalb ausüben. Mein Wechsel in das Bild hat bewirkt, dass ich diesen Umstand ausnahmslos akzeptieren muss.

Sollte es zerrissen werden oder brennen - es wäre mein sicherer Tod. Ebenso wie es der Untergang für die Menschen wäre, wenn sich die Umstände außerhalb ihrer Welt zu ihren Ungunsten verändern würden.

Ich kann hier sehr lange Spaziergänge und Wanderungen unternehmen. Was ich vermieden habe ist die genaue Vermessung. Ich zähle keine Schritte, dokumentiere keine Beobachtungen, versuche erst gar nicht, den Inhalt des Bildes als Information zu begreifen, Maßeinheiten zu definieren und anzuwenden. Ich wüsste dann mehr als Heinesen über das Bild. Mit empirischen Fakten in der Hand würde ich letztlich versuchen, zu intervenieren, das Bild zu beeinflussen, zu bearbeiten, zu zerstören. Glücklicherweise habe ich keine Ahnung davon, wie ich das anstellen müsste. Bisher ist das Bild noch so, wie Heinesen es sich erdacht hat, und ich hinterlasse nirgendwo Spuren. Ich nicht, und auch keine anderen Bildbewohner.

Wenn Menschen zu nahe kommen, um das Bild zu betrachten, oder sich ein Buch aus dem Bücherregal holen, das neben dem Bild steht, ziehen ihre Köpfe wie Asteroiden an meiner obersten atmosphärischen Schichte vorbei. Die Menschen sind sogar voneinander unterscheidbar. Die Himmelserscheinungen haben für mich jedoch keine Bedeutung mehr.

Über den Rand hinaus kann ich keinen Einfluss mehr auf die Welt und die Zustände außerhalb ausüben. Mein Wechsel in das Bild hat bewirkt, dass ich diesen Umstand ausnahmslos akzeptieren muss.

Sollte es zerrissen werden oder brennen - es wäre mein sicherer Tod. Ebenso wie es der Untergang für die Menschen wäre, wenn sich die Umstände außerhalb ihrer Welt zu ihren Ungunsten verändern würden.

Ich kann hier sehr lange Spaziergänge und Wanderungen unternehmen. Was ich vermieden habe ist die genaue Vermessung. Ich zähle keine Schritte, dokumentiere keine Beobachtungen, versuche erst gar nicht, den Inhalt des Bildes als Information zu begreifen, Maßeinheiten zu definieren und anzuwenden. Ich wüsste dann mehr als Heinesen über das Bild. Mit empirischen Fakten in der Hand würde ich letztlich versuchen, zu intervenieren, das Bild zu beeinflussen, zu bearbeiten, zu zerstören. Glücklicherweise habe ich keine Ahnung davon, wie ich das anstellen müsste. Bisher ist das Bild noch so, wie Heinesen es sich erdacht hat, und ich hinterlasse nirgendwo Spuren. Ich nicht, und auch keine anderen Bildbewohner.

Für manche Betrachterinnen und Betrachter befindet sich im unteren Bildteil ein Dorf. Ich weiß, dass dem nicht so ist. Von einer höheren Warte aus vermute auch ich darin Menschen. Ich spiele mit diesen Gedanken. Natürlich gibt es hier keine anderen als mich.

Und natürlich hätte ich auch Fragen an Heinesen. Ich vermeide es, mit ihm ein imaginäres Gespräch zu führen. Es wäre seltsam, wo ich doch in seinem Bild lebe. Meine Lebenswelt ist eine Druckgrafik, signiert von Heinesen und mit der Nummer 32/55 versehen. Bisweilen stelle ich mir die Frage, ob meine Parallelwelten, die anderen Druckgrafiken, ebenfalls bewohnte Exo-Kunstwerke sind. Es bestünde die Möglichkeit einer Parallelität, wenngleich die anderen Werke anderen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Ich träume davon, mich in Heinesens Bildwelten zu bewegen, andere aufzusuchen. Unmöglich nur ist es, dass ich dort hingelange. Aus dem Bilderrahmen heraus sehe ich unscharf Umrisse von anderen Werken, die nicht von Heinesen stammen. Vielleicht wird es den Tag geben, an dem ich zu glauben beginne, Heinesen habe mich hierhergesetzt. Vielleicht werde ich einmal meinen, er hätte mich erschaffen. Ich weiß sehr wohl, dass sich die Dinge verändern können und man selbst die eigene Vergangenheit anzweifelt, wenn die Umstände trügerisch werden.

Bevor ich in das Bild ging war ich auf den nordatlantischen Inseln unterwegs. Erst am vorletzten Abend bemerkte ich Heinesens Bild. Es hing in einer Hotellobby. Ich konnte den säuberlich geschriebenen Namen am unteren Bildrand erkennen und suchte im Internet nach dem Künstler. Ich betrachtete das Werk eine Weile und fragte, ob ich es auf mein Zimmer mitnehmen dürfte. Zunächst verstand der junge Mann am Empfang mein Anliegen nicht, zudem hatte er mit zwei betrunkenen Gästen zu kämpfen: zwei Damen, die ein Taxi wollten, als es aber kam, die Treppe abwärts in den dunklen Hotelkeller nahmen. Um das rationalere Problem loszuwerden, ließ er mich das Bild mitnehmen. Ich machte mir Platz in dem kleinen Zimmer, von dem aus ich auf die Start- und Landebahn am Flughafen sehen konnte. Bald schon interessierten mich die selten startenden und landenden Flugzeuge nicht mehr. Ich verabsäumte es ebenso, die Wanderung zum nahe gelegenen See Sorvagsvatn zu machen, der direkt ins Meer stürzt und einen bei den Touristinnen und Touristen beliebten Infinity-Effekt erzeugt. Nein, ich dachte nicht mehr daran.

Dafür starrte ich in Heinesens Bild. Ich tat es so, wie ich es im Experiment "Silence" des Kunstsammlers Karlheinz Essl gelernt hatte. Stundenlang. Die eine Ebene trat hinter die andere zurück. Da war ein Berg, plötzlich entkam er dem Rahmen und ich meinte, ich befände mich an seinem Fuß. Ich hatte das Gefühl, hinunter und hinaufblicken zu können und mich in Heinesens Landschaft zu bewegen wie ein Vogel. Ich trank nichts mehr und schlief auch nicht. Wie lange ich vor dem Bild saß, weiß ich nicht. Vermutlich war ich schon längst hineingeraten, als ich mich noch immer sitzend im Flughafenhotel wähnte. Mir war es, als ob ich träumen würde, und im Traum bin ich zu größeren Risiken geneigt. Also gab ich irgendwann nach und schlief ein. Beim Erwachen lag ich im strichlierten Gras. Zunächst dachte ich, dass ich nur geschrumpft sei und wie ein Insekt auf dem Blatt laufen könne. Ich war jedoch nicht an der Oberfläche, sondern tief in Heinesens Landschaft, in den Ebenen und Schichten, über mir die Striche und Formen der Vögel, die ich seither eingehend beobachte.

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