GREGORY CREWDSON
Ö1 Kunstgeschichten
"Die Störung" von Eva Schmidt
Das rätselhafte Bild trägt den Titel "The Disturbance" und stammt von dem amerikanischen Fotografen Gregory Crewdson. 1962 als Sohn eines Psychoanalytikers in Brooklyn geboren, hörte er als Kind aus dem Sprechzimmer seines Vaters dessen Patienten sprechen. Aus diesen Erinnerungen schöpft Crewdson die Inspiration für seine zwischen Traum und Realität verorteten Kunstfotografien. Eva Schmidt wählte für ihre Geschichte eine Erzählweise, die der geheimnisvollen Bildgestaltung Crewdsons verwandt scheint. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.
14. August 2022, 05:00
Neue Texte | 14 08 2022
"Die Störung" von Eva Schmidt. Es liest Sabine Lorenz. (Wh. vom 3. November 2019)
Sie war in der Badewanne gelegen und hatte ein Geräusch gehört. Eine Stimme, gleich darauf eine zweite. Es mussten Erwachsene sein, die sich gegenseitig etwas zuriefen, Männer vermutlich, jedenfalls keine Kinder. Besuch erwartete sie nicht. Niemand wusste, dass sie da war, höchstens weit entfernte Nachbarn, die gesehen hatten, dass das Haus bewohnt war. Vielleicht hatten sie den Rauch gesehen, der aus dem Schornstein stieg, oder gestern Abend, als sie sich etwas zum Essen zubereitete, die Lichter.
Jetzt war es wieder still. Vielleicht war auf der Straße jemand vorbeigegangen, oder hatte sich in den Weg, der zum Haus führte, verirrt. Sie hatte viel zu heiß gebadet. Nachmittags, nach einem Spaziergang am Ufer des Sees, war sie ziemlich durchfroren gewesen, trotz des Schneeanzugs, den sie auf der Herfahrt gekauft hatte. Jack hatte ihr beim Kofferpacken zugeschaut, deswegen hatte sie nicht die passende Kleidung mitgenommen. Es wäre ihm aufgefallen. Nimm das Kostüm mit, hatte er gesagt, da bist du auf der sicheren Seite. Das Kostüm war alt, grau und unauffällig. Genau wie ihre Haare. Sie hatte aufgehört, sich die Haare zu färben, weil Jack immer wieder betont hatte, dass ihr 'natürlich' besser stand.
Lisa Mathis
Eva Schmidt wurde 1952 in Vorarlberg geboren, sie schreibt Romane und Erzählungen. Ihr Episodenroman "Ein langes Jahr" war 2016 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen 2019 ihr hochgelobter Roman "Die untalentierte Lügnerin" und 2021 die Erzählsammlung "Die Welt gegenüber". Neben eigener Prosa veröffentlicht Eva Schmidt auch Übersetzungen aus dem Italienischen.
Was, wenn er herausfand, dass sie am Kongress gar nicht teilnahm, sich nicht einmal angemeldet hatte? Wenn er im Hotel anrief, weil etwas passiert war? Wundere dich nicht, wenn ich deine Anrufe nicht entgegennehme, hatte sie gesagt, den ganzen Tag Vorträge und Seminare und abends die gemeinsamen Dinner, du weißt ja, wie das ist. Aber er wusste nicht, wie das war, er war Chirurg, kein Therapeut. Seine Arbeit beruhte auf klareren Strukturen als ihre. Er hatte den Prospekt angeschaut, in dem die einzelnen Vorträge und die Referenten aufgelistet waren. Alles, was er dazu gesagt hatte, war: nicht gerade die erste Liga, könnte etwas langweilig werden. Ich werde mich bestimmt nicht langweilen, hätte sie gerne erwidert, weil ich nämlich gar nicht dort bin.
Sie hatte alles so genau geplant. Zwischendurch würde sie ihn hin und wieder anrufen. Wir machen gerade eine Pause, würde sie sagen, oder: wollte mich nur kurz mal melden, gleich geht’s weiter. In Fertile hatte sie angehalten und alles, was ihr fehlte, gekauft. Einen Schneeanzug, Lebensmittel, Wein und Zigaretten. Sie hatte sogar daran gedacht, ein Feuerzeug zu kaufen. Den Schneeanzug - Ausverkaufsware - würde sie im Haus zurücklassen, sie hatte ihn bar bezahlt, um auf ihrer Kreditkartenabrechnung keine Spur zu hinterlassen. Jack prüfte ihre Abrechnungen und vermutlich hatte er recht, wenn er meinte, ihr würden falsche Abbuchungen nicht einmal in vierstelliger Höhe auffallen. Die Mails mit dem Hausvermieter hatte sie gelöscht, wenn, dann würde er höchstens die Internetseiten finden, auf denen sie nach Häusern und Wohnungen gesucht hatte. Deshalb hatte sie am Ende auch noch ihr Passwort geändert. Aber sie wollte nicht an Jack denken. Dazu war sie nicht hergekommen. Sie hatte das Haus gemietet, um einfach mal ein paar Tage allein zu sein. Als die Kinder noch klein gewesen waren, hatte sie manchmal gedacht, wenn sie größer sind und allein zurechtkommen, fange ich ein neues Leben an. Jetzt waren sie schon lange erwachsen.
FELICITAS DARSCHIN
Sabine Lorenz arbeitet seit 1998 als freischaffende Schauspielerin, Autorin, Sprecherin und Regisseurin. Schon im zweiten Jahr ihres Schauspielstudiums in München wurde sie mit dem Lore-Bronner-Preis ausgezeichnet. Sie ist nicht nur Theaterdarstellerin, sondern spielt auch in vielen ARD-, ZDF- und Kinoproduktionen. Als Autorin verfasst sie Film- und Romanadaptionen für die Bühne und schrieb u.a. das Drehbuch zu ihrem Kurzfilm "anna inside/out", bei dem sie auch Regie führte.
Sie war aus der Badewanne gestiegen, hatte sich abgerubbelt, danach ein Badetuch über der Brust verknotet. Der Spiegel war angelaufen. Sie öffnete die Badezimmertür. Vom Flur kam kühle Luft herein, was daran lag, dass es keine Kellertür gab, nur eine Holztreppe, die direkt im Heizraum endete. Als sie angekommen war, hatte sie jede Tür im Haus geöffnet, jedes Zimmer, auch den Keller betreten, in die Schränke geschaut. Sie wollte sicher sein, dass sie allein war, dass niemand eingebrochen war, sich womöglich irgendwo versteckt hielt.
Jetzt hörte sie die Stimmen wieder, sie klangen nicht mehr so weit entfernt wie vorher. Der Spiegel war noch immer beschlagen, nur in einer Ecke hatte sich das Kondenswasser zurückgezogen. Ihre Gesichtshaut war gerötet. Während die Wanne vollgelaufen war, hatte sie sich abgeschminkt, eine Nachtcreme aufgetragen, obwohl es noch nicht Abend war. Im Flur knackte der Holzboden. Eine blaue Strickjacke hing in der Garderobe. Sie roch daran, schlüpfte hinein. Vorsichtig öffnete sie die Wohnzimmertür. Das Zimmer hatte große Fenster. Panoramafenster mit Blick in die Natur hatte es auf der Website geheißen. Falls jemand davorstand, würde er sie beim Eintreten sehen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer hatte sie sich vorgestellt, dass ein Fremder direkt vor einem der Fenster stand, die Nase an der Scheibe plattdrückte und hereinglotzte. Aber da war keiner.
Sie hatte keine Ahnung, wie die Menschen in der Gegend lebten, ob sie neugierig waren, sich für ihre Nachbarn oder Fremde interessierten oder lieber ihre Ruhe haben wollten. Wer hier lebte, hatte wenig Abwechslung, soviel stand fest. Fertile war die nächste Stadt, vierzig Meilen entfernt, vielleicht tausend Einwohner. Von den Fenstern im oberen Stock sah man die ganze Umgebung. Sie hatte die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite des Sees gezählt. Es waren vier. Sie lagen weit auseinander, um jedes Haus ein großes Grundstück, dazwischen Baumgruppen und Hecken. Angrenzend an die Siedlung erstreckte sich dem ganzen See entlang - jedenfalls soweit sie sehen konnte - nur Wald. Ein Laubwald mit hohen Stämmen und kahlen Ästen. Es war ja Winter. Dass die schneebedeckte Wiese, die man vom Haus aus sah, in Wirklichkeit ein zugefrorener See war, hatte sie erst entdeckt, als sie die eingerahmte Fotografie im Flur gesehen hatte. Es war ein Sommerbild, man sah darauf die beiden Panoramafenster und dahinter die weite Fläche des Sees, auf dem ein Boot trieb.
Als sie wieder etwas hörte, trat sie näher ans Fenster. Da. Es waren drei. Ob Männer oder Frauen war nicht zu erkennen, sie waren zu weit entfernt. Klar war nur, dass sie sich auf dem zugefrorenen See befanden. Vielleicht waren es Bewohner der Häuser am gegenüberliegenden Ufer. Waren sie diejenigen, deren Stimmen sie gehört hatte? Einer befand sich fast in der Mitte des Sees, der zweite weiter hinten, am Schluss, wieder ein gutes Stück entfernt, ein Dritter, der etwas hinter sich herzog. Vermutlich einen Schlitten. Waren es gar nicht sie, die gerufen hatten? Ob es noch andere gab? Womöglich unten an der Bootsanlegestelle, die man vom Haus aus nicht sah. Was machen die nur? Wollen sie den See überqueren oder irgendwo ein Loch schlagen, um Fische zu fangen? Es sah aus, als würden sie nur herumstehen. Oder bewegten sie sich langsam auf das Haus zu? Womöglich kennen sie die Hausbesitzer, dachte sie, haben den Rauch gesehen und wollen sie besuchen.
Was für eine unangenehme Vorstellung. Sie würde auf keinen Fall aufmachen, falls jemand klingelte. Das nächste Haus sei eine halbe Meile entfernt, hatte der Vermieter gesagt, als sie ihm erklärt hatte, dass es ihr in erster Linie darauf ankomme, ein ruhiges, ungestörtes Wochenende zu verbringen. Ich habe eine wichtige Arbeit zu erledigen, hatte sie gesagt, damit der Mann nicht auf den Gedanken kam, sie würde sich mit einem Mann treffen. Jetzt hörte sie wieder jemanden rufen. Aber keiner antwortete. Im Schneelicht des späten Nachmittags wirkte alles grau. Möglich, dass die drei bunte Kleidung trugen, wattierte Anzüge, Schneestiefel, Mützen oder Sturmhauben, aber farblich waren sie nicht zu unterscheiden. Von Weitem sahen sie aus wie Teilnehmer einer Expedition, von Kopf bis Fuß eingemummt. Der Schlitten, den der letzte hinter sich herzog, wirkte vollgepackt.
Wieder dachte sie an Jack, der zum Glück nicht sehen konnte, wie sie am Fenster stand und ein paar Männer beobachtete, die im Schnee herumirrten. Er würde nie begreifen, warum sie hergefahren war, warum sie gelogen hatte. Zum Glück hatte er nicht viel gefragt. Jack stellte selten Fragen, und wenn, waren es die falschen. Er wollte alles nicht so genau wissen, bildete sich lieber selbst eine Meinung. Wenn sie gemeinsam einen Film anschauten, fragte er sie hinterher nach Zusammenhängen, weil er die Handlung nicht wirklich verfolgt hatte. Er war die meiste Zeit abwesend, doch sie hatte keine Ahnung, womit er in Gedanken beschäftigt war. Vielleicht dachte er an gar nichts, starrte auf den Bildschirm, bekam aber nicht mit, was passierte oder wie die handelnden Personen zueinander standen. Jack füllte einfach nur seinen Platz aus. So kam es ihr vor. Er genügte sich selbst.
Sie sollte sich ein Glas Wein einschenken, eine Zigarette anzünden und sich so auf die Couch legen, dass sie entweder nur die Bäume am gegenüberliegenden Ufer oder den grauen Himmel sah. Bald würde es wieder schneien. Sie hatte schon dreimal Holz nachgelegt, hörte das Feuer knacken, die Heizkörper glühten. Sie könnte das Badetuch fallenlassen und sich nackt auf die Couch legen. Ein paar Tage lang würde sich niemand in ihr Leben einmischen, sie müsste sich keine uninteressanten Kommentare anhören, sich über die Eigenheiten oder Spleens ihrer Mitmenschen nicht ärgern. Sie würde nicht fernsehen, keine Nachrichten und Musik hören, vielleicht nicht einmal ein Buch lesen. So jedenfalls hatte sie sich ihren Aufenthalt vorgestellt.
In der Nacht, als sie in einem der oberen Zimmer geschlafen hatte, hatte sie von einem Vogel geträumt. Es war ein Traum gewesen, der sich beim Aufwachen nicht verflüchtigte, sondern sie den ganzen Tag verfolgte. Der Vogel war eine Krähe gewesen oder ein Rabe. Der Größe nach eher ein Rabe, der weit oben in einem Baum, unter dem sie gestanden war, gekrächzt hatte. Meinst du mich?, hatte sie gefragt und hinaufgeschaut. Da war der Vogel, von Ast zu Ast hüpfend, nähergekommen. Sie hatte seine schwarzen Augen gesehen, den gebogenen Schnabel. Sein Gekrächzte hatte sich heiser angehört, fast als würde er husten. Bist du krank?, hatte sie weitergefragt. Inzwischen saß er auf einem Ast, der nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf endete.
Sie wollte weggehen, konnte sich aber nicht entfernen, als wäre sie festgewachsen. Das hatte sie in Träumen schon oft erlebt, dass sie nicht fliehen konnte. Schließlich hüpfte der Rabe auf ihre Schulter, krächzte in ihr Ohr, stieß seine Krallen in ihre Schulter und pickte sie in den Hals. Seltsam war, dass sie alles sah, hörte und spürte, aber trotzdem keinen Schmerz empfand. Als sie aufwachte, versuchte sie den Traum zu deuten, fand aber keine Erklärung. Nur die beiden Stellen an Hals und Schulter, dort, wo der Rabe sie verletzt hatte, fühlten sich ein wenig taub an. Sie schaute an sich hinunter, sah ihre nackten Zehen, die geschwollenen Adern auf den Fußrücken, die stoppeligen Haare auf den Unterschenkeln. Sie stellte sich die Dellen auf ihren Oberschenkeln unter dem Nachthemd vor, die Schamhaare, die langsam grau wurden. Die jungen Frauen von heute rasierten sich die ganze Scham, vermutlich auch ihre beiden Töchter. Aber was wusste sie schon über sie?
Sie hatte versucht, mit Claire über Jack zu sprechen. Claire war Medizinerin wie ihr Vater, Hautärztin. Dein Vater sitzt wie ein Vogel auf meiner Schulter, hatte sie zu Claire gesagt. Das war vor ein paar Wochen gewesen, also vor dem Traum mit dem Raben. Moment mal, Mum, hatte Claire erwidert. Sie war - wie meistens, wenn sie beide allein waren und Zeit für ein Gespräch gewesen wäre - mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt, bestellte irgendwas im Internet oder checkte ihre Termine, hörte ihr also ohnehin nicht zu. Mobiltelefone schienen für ihre beiden Töchter unentbehrliche Requisiten zu sein. Sie hatte mit den Fingern auf die Tischplatte geklopft und sich vorgestellt, dass Claire sie vermutlich gleich darum bitten würde, an einem der folgenden Abende auf ihre Kinder aufzupassen. Weißt du, Phil hat eine Einladung zu einem Abendessen, könnte beruflich wichtig sein und natürlich will er, dass ich ihn begleite, würde Claire sagen. Phil war im Investmentgeschäft und verdiente doppelt soviel wie Claire, wodurch sie sich ein eigenes Haus, zwei Autos und ein Segelboot leisten konnten. Mum, hör auf, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, hatte Claire gesagt, du nervst. Also hatte sie ihre Hände in den Schoß gelegt und gewartet, bis ihre Tochter das Telefon weggesteckt und gefragt hatte: Was hast du gerade gesagt?, worauf sie erwidert hatte: Ach nichts. Hab’s schon wieder vergessen.
Obwohl sie die ganze Zeit auf den See gestarrt hatte, fiel ihr jetzt erst auf, dass die Männer verschwunden waren. Sie trat näher ans Fenster und war fast erleichtert, als sie zwei von ihnen wiedersah. Den, der den Schlitten zog und einen der anderen ein Stück weiter vorne. Sie waren nur hinter der Wand zwischen den Panoramafenstern verschwunden gewesen. Also waren sie doch weitergekommen. Zuerst hatte es ausgesehen, als würden sie nur herumstehen, oder als würde der erste auf die beiden anderen warten. Womöglich gehörten sie gar nicht zusammen? Inzwischen hatte sie auch nichts mehr gehört. Vielleicht hatte der erste die beiden anderen vor etwas gewarnt? Vor einer brüchigen Stelle oder einem Loch im Eis zum Beispiel? Unsinn, dachte sie. Die Seen, von denen es in der Gegend eine ganze Menge gab, waren den ganzen Winter über zugefroren, das Eis meterdick. Jetzt sah sie auch den ersten wieder, die Entfernung zum nächsten hatte sich inzwischen fast verdoppelt.
Daphne, ihre jüngere Tochter, hatte auch zwei Kinder. Claire hatte zwei Jungen, acht und fünf, Daphne einen Jungen und ein Mädchen. Daphne hatte auch Ärztin werden wollen, genau wie ihr Vater. Eines Tages werde ich für ‘Ärzte ohne Grenzen’ arbeiten, hatte sie jahrelang verkündet. Wie sie auf die Idee gekommen war, Kunstgeschichte zu studieren, wusste niemand. Sie hatte zwei Semester studiert, dann war das erste Kind gekommen, ein Jahr später das zweite. Inzwischen war sie geschieden und hatte einen neuen Mann. Daphne war schon immer die verträumtere der beiden Schwestern gewesen. Beide liebten ihren Vater. Meine Töchter sind meine einzige Schwäche, pflegte Jack zu sagen, wann immer sich ihm Gelegenheit dazu bot. Er fand es witziger als es war. Jack, dachte sie. Jack war einfach nur Jack. Wie ein Baum, der Wind, Regen, Schnee, Blitz, Hagel und Sonne genauso nahm, wie sie kamen. Jack sagte Sätze wie: Das Leben meint es gut mit uns, findest du nicht auch? Oder: Heute haben wir einen Patienten während der OP verloren, war vermutlich ein Segen für ihn. Oder: Wir könnten wieder einmal ein Wochenende in Manchester by the Sea verbringen, was meinst du? Das einzige Wochenende, das sie jemals in Manchester verbracht hatten, lag mehr als dreißig Jahre zurück. Sie waren jung gewesen, hatten einander gerade erst kennengelernt. Aber Jack tat so, als hätte sich nichts verändert.
Bald würde es dunkel werden, aber die Männer auf dem Eis schienen nicht ans Umkehren zu denken. Der Abstand zwischen ihnen war inzwischen etwas kleiner, es schien, als wären sie einander doch näher gekommen. Vielleicht hatten sie Stirnlampen dabei, hatten ein Ziel am anderen Ende des Sees und mussten weiter. Sie durfte sie nicht aus den Augen verlieren, würde ihnen nachschauen, so lange sie noch etwas sehen konnte. Es war wie eine Wette. Wenn sie den Augenblick, in dem die drei entweder in der Dunkelheit oder aus ihrem Sichtfeld verschwanden, nicht verpasste, würde alles gut gehen. Wieder strich sie über die Stellen an ihrem Hals und auf der Schulter. Es fühlte sich noch immer etwas taub an, aber vielleicht bildete sie sich alles nur ein. Ihr linkes Augenlid zuckte, vermutlich weil sie auf den See starrte, auf dem in der hereinbrechenden Dunkelheit Eis, Schnee, Bäume und Menschen unmerklich miteinander verschmolzen waren.
Redaktion: Ingrid Bertel