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Radiokolleg
Sweet Soul Music
Die späten 1960er Jahre waren für die Bürger der USA außergewöhnlich blutig. Schwarze Bürgerrechtler wie Martin Luther King und Malcolm X wurden erschossen, der Vietnam-Krieg eskalierte und in vielen US-amerikanischen Städten kam es zu Ausschreitungen mit teils Dutzenden Toten. Gleichzeitig fand im Alltag vieler schwarzer Menschen eine kleine Revolution statt. Sie nannte sich Soul.
16. Dezember 2019, 02:00
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Radiokolleg | 18 11 - 21 11 2019 | 09:45 Uhr
Soul war nicht nur ein Musikstil, sondern eine eine Art zu reden, zu gehen, sich zu kleiden und ein Ausdruck von schwarzem Stolz. Es gab erstmals erfolgreiche Plattenfirmen, die sich in der Hand schwarzer Unternehmer befanden, eine Serie von Filmen mit schwarzen Hauptdarstellern. Und schließlich wurden vor rund fünfzig Jahren auch vier Alben veröffentlicht, die die großen gesellschaftspolitischen Themen dieser Zeit wiederspiegeln: Aretha Franklin mit "Lady Soul", Sly And The Family Stone mit "Stand", Marvin Gaye mit "What's Going On" und Curtis Mayfield mit "Curtis".
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Es ist Sommer im Jahr 1967. In Detroit sind die Stadtviertel noch stärker segregiert als in den Südstaaten, Armut ist allgegenwärtig, Polizeigewalt ebenfalls. Bei einer nächtlichen Feier in einer illegalen Bar werden alle Feiernden von der Polizei verhaftet, ein Funke springt über, er entzündet sich, in der Hitze der Nacht brechen Unruhen aus. Manche sagen auch Rebellion zu den folgenden fünf Tagen, oder Aufstand. Am Ende ist die Polizei nicht mehr Herr der Lage, die Nationalgarde muss einrücken, 43 Menschen sind tot, über tausend verletzt und noch mehr Gebäude sind zerstört.
Detroit ist ein Zentrum afroamerikanischer Kultur. Auch die junge Sängerin Aretha Franklin wohnt hier. Ihr Vater ist der bekannte Pastor CL Franklin, ein guter Freund von Martin Luther King. Vor dem Marsch auf Washington, bei dem King seine berühmte Rede "I had a dream" hält, wollten die meisten Integration. Jetzt zieht ein Spalt durch die USA, es gibt radikale und gemäßigte Kräfte. Die Rufe nach “Black Power” werden immer lauter.
“People Get Ready“ ist eine Coverversion vom Album “Lady Soul” aus dem Jahr 1968. Dieses Album wird zu einem der wichtigsten dieser Zeit. In den Songs von Aretha Franklin mischten sich Maskierungen (das gelobte Land wurde etwa von Eingeweihten als politische Befreiung verstanden) mit dem Rappin' der Straße.
Aretha Franklin verwandelt “People Get Ready“ in eine hoffnungsvolle Predigt. Sie spiegelt den Klang der vielen schwarzen Kirchen des Landes in ihre Version. Einmal singt sie: Seid bereit, ein Zug wird euch mitnehmen zum Jordan. Es ist ein biblisches Motiv, eines von Befreiung und einem besseren Morgen, das auf die Unterdrückten wartet.
Chain Of Fools - Die Kette, die Aretha Franklin durchbricht, ist die einer grausamen Liebe. Wer genauer hinhört, kann noch etwas anderes entdecken, nämlich den Ruf nach Freiheit. Chain Of Fools ist ein Song über Liebe und gleichzeitig ein Protestlied. "Er drückt die revolutionäre Entschlossenheit der Bewegung mit kristallklarer Präzision aus: Eines Morgens wird diese Kette brechen“, schreibt Craig Werner in dem Buch "A Change Is Gonna Come".
Nach der Ermordung von Martin Luther King brechen wieder Unruhen aus, eine weitere Welle der Gewalt überzieht das Land, mehr als 40 Menschen sterben. Eine Woche später wird ein Bundesgesetz für einen fairen Wohnungsmarkt unterzeichnet, für das Martin Luther King lange erfolglos gekämpft hatte. Daraufhin ebben die Proteste langsam ab.
Aretha Franklin macht "Respect" zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung, später auch von Frauenbewegungen weltweit. Die Songs von Aretha Franklin wurden zu Hymnen - der beseelte Sound einer Bewegung, die zunehmend von schwarzem Stolz und Black Power angetrieben wurde, statt wie früher vom Traum nach Integration“ - Suzanne E. Smith in ihrem Buch “Dancing In The Streets“.
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Soul war in eine breite Bewegung eingebettet, Schwarze Erfahrungen wurden diskutiert, es galt sich kulturell und wirtschaftlich zu ermächtigen. Soul war dabei ein ganzheitliches Konzept, das über Musik und Essen hinausging. Letzten Endes war Soul ein Konzept von Humanität.
Sly and The Family Stone gaben dem Soul auf ihrem Album "Stand!" ein multiethnisches, widerständiges Antlitz. In dieser Familie spielen Frauen und Männer Seite an Seite, Menschen schwarzer Hautfarbe, weißer Hautfarbe, ganz gleich welcher Religion. Sly and The Family Stone lebt Integration. Hier spielt es keine Rolle mehr wie jemand aussieht. Sie mischen Funk, Psychedelic Rock, Blues, Pop und natürlich auch Soul, mal in Songs, und noch mehr auf ihren Alben.
Nicht nur in "Don't call me Nigger, Whity" werden Schranken eingerissen. In Bussen müssen Menschen schwarzer Hautfarbe nicht mehr auf den hinteren Plätzen sitzen, an Schulen und Universitäten ist die Rassentrennung abgeschafft, endlich kann man in denselben Bars sitzen, in denselben Hotels schlafen und weil die Welt all das auf Fernsehempfangsgeräten beobachten kann, erhält Martin Luther King 1964 der Friedensnobelpreis. Gleichzeitig erklärt Präsident Lyndon B. Johnson der Armut den Krieg, er schafft willkürliche Tests ab, die vor allem Schwarze daran hinderten zu wählen, er will eine Great Society errichten.
Everyday People könnte mann mit "Jeder nach seiner Facon" übersetzen, oder “leben und leben lassen”. Es ist ein lockerer Slogan gegen Intoleranz und gleichzeitig einer für den Frieden. Niemand ist besser als der andere, singt Sly Stone. Doch die Zeichen der Zeit sind in den USA auf Krawall gebürstet. Bald verfliegt der Optimismus in Sly Stones Liedern.
Denn die Band merkt, dass gelebte Integration nicht immer einfach ist. In Oakland gründen mehrere Studenten 1966 die Black Panther Party, nachdem die Polizei ein weiteres Mal einen unbewaffneten Schwarzen erschossen hatte. Die Mitglieder bewaffnen sich und wollen sich, so heißt es, gegen die rassistische Polizei verteidigen. Black Panther machen auch gemeinnützige und soziale Arbeit, wollen Menschen von der Straße holen und die Not lindern. Gleichzeitig haben sie sich dem Marxismus und dem Anti-Imperialismus verschrieben. Einige von ihnen fordern Sly Stone dazu auf, dass er sich von seinen weißen Bandkollegen und seinem Manager trennt, der Jude ist. Sly Stone lehnt ab.
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Richard Nixon hält 1970 eine Rede zur Lage der Nation. Sie ist bahnbrechend, denn erstmals wird Umweltschutz zu einem Leitthema der US-Politik. Im selben Jahr singt auch Marvin Gaye in drastischen Bildern über die Zerstörungen an der Natur, über sauren Regen und vergiftete Böden. Marvin Gaye muss die Veröffentlichung von "Whats Going On" 1970 nach längerem Hin und Her erzwingen. Denn sein Chef, Berry Gordy, er hat Motown Records gegründet und zu einer Fabrik für Pop-Hits gemacht, fürchtet er um die Karriere seines Sängers. Doch "Whats Going On" wird ein Album, von dem viele Kommentatoren sagen, nachher habe schwarze Musik nicht mehr so geklungen wie vorher.
Das Album macht den Krieg in Vietnam offen zum Thema. “What’s Happening Brother“, was passiert, Bruder, dieser Song richtet sich an alle Brüder und Schwestern, aber auch unmittelbar an Frankie Gaye. Er schreibt seinem älteren Bruder Marvin Briefe aus Vietnam. Daheim soll er Marvin einmal von der Gewalt im Krieg erzählt haben und wie er dort Zeuge von Ermordungen wurde. Daraufhin soll Marvin gesagt haben: "ich denke ich weiß jetzt wie ich kämpfen kann, nicht mit Bildern oder Literatur, sondern mit Musik".
Die Themen des Albums, urbane Gewalt, verarmte Innenstädte, Rassismus, Vietnamkrieg und Ökologie, gehen weit über die leicht konsumierbaren Songs hinaus, die bisher von Motown veröffentlicht wurden. Der Song “Right On“ sprengt die Grenze von sieben Minuten, er eröffnet mit Flöten, Guiro und einem fast lateinamerikanischen Rhythmus. Sanft rollende Congas und Bongos sind meilenweit von den bekannten Formeln entfernt, mit denen Motown bislang Hits am laufenden Band produzierte. Marvin Gaye singt mittels Studiotechnik teils mehrstimmig mit sich selbst. Dieses Album "Whats Going On" ist opulent instrumentiert und arrangiert.
“Mercy Mercy Me“ wird zur zweiten Single. Strahlung ist im Erdboden und in den Meeren, Gift ist der Wind, der aus Norden und Süden und Osten bläst, singt Marvin Gaye in diesem Song. Er ist sicher nicht der Erste, der Umweltverschmutzung zum Thema macht. Aber womöglich der Erste, der das so offen tut.
"Die große Frage der Siebziger ist, sollen wir uns unserem Umfeld ergeben, oder sollen wir Frieden mit der Natur schließen und damit anfangen, die Schäden wiedergutzumachen, die wir unserer Luft, unserem Land und unserem Wasser zugefügt haben?", sagt Richard Nixon in einer Rede zur State Of The Union am 22. Januar 1970.
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“Curtis“ wird 1970 veröffentlicht. In den drei Jahren zuvor hatte es Ausschreitungen in fast allen großen Städten der USA gegeben. Dabei starben dutzende Menschen. Martin Luther King wurde erschossen, mehrere Aktivisten der Black Panther Party, und auch der Bruder von John F. Kennedy, Bobby Kennedy. In turbulenten Zeiten wird Richard Nixon 1968 mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Die Truppen in Vietnam werden 1970 erstmals reduziert. Es zeichnet sich ab, dass die USA erstmals in ihrer Geschichte einen Krieg verlieren werden.
Entspann dich, wenn es eine Hölle gibt da unten, werden wir alle dorthin gehen. Curtis Mayfield begrüßt so die Hörer auf seinem ersten Soloalbum. Er nennt in "Don’t Worry If There’s Hell Below" viele Probleme beim Namen. Sie bleiben nach einem blutigen Jahrzehnt weiter ungelöst. Es gibt nach wie vor ungerechte Gesetze, schlechte Schulbildung, verschmutztes Wasser, den Krieg in Vietnam. Drogen treffen vor allem Arme und Leute reden lieber, aber unternehmen nichts. Richard Nixon - so singt Mayfield - sagt zu all dem nur, entspannt euch, entspannt euch.
Dabei gäbe es auch gute Nachrichten. In den Sechziger Jahren verdoppelt sich die Zahl junger Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die aufs College gehen. Immer mehr Schwarze werden in politische Ämter gewählt, die Arbeitslosenrate sinkt deutlich, auch wenn sie weiter doppelt so hoch bleibt wie unter Weißen. Und nur mehr ein Drittel aller Schwarzen lebt in Armut. Zehn Jahre zuvor waren es noch einer von zwei gewesen. Und was die Musik betrifft, macht Soul immerhin zehn Prozent des gesamten Marktes aus.
Curtis Mayfield fängt mit sieben Jahren an Gospel zu singen, mit sechzehn gründet er die Gruppe The Impressions. Er will den gesellschaftlichen Wandel mit Musik befeuern. “We’re A Winner“ – wir sind Gewinner wird deshalb sogar von einigen großen Radios aus dem Programm verbannt. Kein anderer Star, das schreibt der US-amerikanische Autor Nelson George, hat so oft und so wirkungsvoll seine soziale Philosophie in seine Musik gelegt.
Curtis Mayfield sagt rückblickend auf diese Zeit: "Über die Sechziger zu reden, treibt mir fast Tränen in die Augen. Was wir getan haben, was wir alle getan haben, wir haben die Welt verändert, ich, wir, Smokey Robinson, Jerry Butler, die Temptations, Aretha, Otis, Gladys Knight, James Brown. Das haben wir wirklich. Schranken sind eingebrochen. Und für alle schwarzen Musiker hinterher. Ich meine, das alles erlebt zu haben, Teil davon gewesen zu sein, ist mehr als irgendjemand verlangen könnte.”