LAPIZTOLA STENCIL
Ö1 Kunstgeschichte
"Caminos Precarios" von Isabella Breier
"Sembremos suenos y cosechemos esperanzas" - "Säen wir Träume und ernten wir Hoffnungen". Diese Worte stammen aus einer Rede der mixtekischen Menschen- und Umweltrechtlerin Alberta Carino, die 2010 von Paramilitärs ermordet wurde. Und so nennt sich, vom Wirken der linken Aktivistin inspiriert, ein in verschiedensten Versionen existierendes Street-Art-Bild des südmexikanischen Kollektivs Lapiztola Stencil. Isabella Breier bettet in ihrem Text das bekannte Motiv kontrastierend in ein Galeriemilieu voller Kunstbetriebsamkeit. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Edith-Ulla Gasser.
4. Dezember 2019, 08:21
Neue Texte | 01 12 2019
"Caminos Precarios" von Isabella Breier. Es liest: Eva Mayer.
Alles, was man wollen kann, fällt ihm zu. Er ist ein Schatz, der sich nicht selbst zu heben hat. Ein Schnäppchen von klein auf. Ein Gewinner seit Uterustagen. Er ist die personifizierte Leichtigkeit des Seins. Einer, der sich nirgends hinaufarbeiten musste. Einer, der schön und leistungsfähig schreiend in seine schöne Leistungsträgerwelt geboren wurde, sich zeitlebens jenseits von Elend, Scheitern, Scham bewegte.
Oder, um ein andres Bild zu bemühen:
Chucho ist einer, der stets obenauf schwimmt.
Nein: Einer, der von Gipfeln winkt, ohne müde zu wirken.
Bloß: Kneif ich die Augen zu, erkenn ich hinterm Berg, auf dessen Spitze er triumphiert, einen Riesenkran, der - gut getarnt - im Bildungsbürgernebel verschwindet.
Schon dort, als er, die riesige Pappschachtel in Händen, im Türrahmen meines Büros gewartet hatte, spürte etwas in mir, dass es "diffus" werden würde. Da, als er nickte, das Kinn hob und "Chucho! Freut mich!" flötete. Da gab’s eine innere Stimme, die - obgleich stumm - laut und deutlich tönte: "Vorsicht!" Dass er sich Chucho nannte, fand ich kurios. War er denn lateinamerikanischer Herkunft? Irgendwelche Bezüge? Mitnichten. Dass ich nicht lache! Chucho, mein Gott. Ein Wiener Szenenstar aus gutbürgerlichem Hause, ein schmucker Mittfünfziger, ein wohlhabendes, kunst- und kulturverwöhntes Wesen namens Rudolf, wie er bald kokett bekannte.
Bei den Dinners, Vernissagen und sonstigen "Happenings", die seitens unserer Galerie organisiert wurden, stand er wie selbstverständlich im Mittelpunkt. Mit seiner Nonchalance, seinem noblen Äußeren nahm er viele für sich ein, noch bevor er den ersten Satz von sich gegeben. Er verstand sich auf eloquente Reden, liebte und beherrschte die gehobene Standardsprache, würzte sie mit dialektalen Einschüben, mehrdeutigen Wendungen oder - sparsam dosiert - extra vulgären Begriffen. Es war ein Ereignis, ihm zuzuhören. Manchmal glaubte man, etwas Wichtigem beizuwohnen, dabei selbst wichtig zu sein. Auch bei Unterhaltungen in Grüppchen war’s sehr oft er, dem die Themenauswahl oblag, dessen Interesse oder Wille oder Laune die Ausrichtung wie Geschwindigkeit und Intensität der Konversation entschied. Im Prinzip befahl er die Route. Um im Bild zu bleiben: Er wachte über Abzweigungen und verantwortete jegliche Brems- wie Beschleunigungsmanöver. Was mich am meisten wurmte: Für seinen permanenten Vorrang musste er nicht etwa blinken oder hupen. Um kein Privileg hatte er zu kämpfen. In aller Regel orientierten sich die anderen an seinen Gesten. Selten, dass sich jemand nicht fügte.
Isabella Breier wurde 1976 im nördlichen Waldviertel geboren und wuchs in Wels auf. Seit Mitte der 1990er Jahre lebt sie, von regelmäßigen Aufenthalten in Südmexiko abgesehen, hauptsächlich in Wien. 2005 promovierte sie zu Cassirers "symbolischen Formen" und Wittgensteins "Sprachspielbetrachtungen". Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit unterrichtet Breier Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und arbeitet als literaturwissenschaftliche Mitarbeiterin in diversen Projekten. Für ihre Prosa- und Lyrikpublikationen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Selbst wenn er auf eine seit längerem amüsiert oder konzentriert parlierende Schar stieß, hatte er binnen kürzester Zeit das Zepter der Gesprächsführung an sich genommen. Er riss es nicht fort, es wurde ihm beherzt, beinahe gierig gereicht. Man unterwarf sich auf geradezu aufdringliche Art. Sogar die offen narzisstischen wie mitteilsamsten Alphatierchen hielten sich in seiner Gegenwart zurück.
Ob Bildende Künstlerinnen, Autoren oder Musikerinnen, ob Sammler, Kuratorinnen, Kritiker, Sponsoren oder sonstige Gäste: Alle huldigten Rudolf alias Chucho. Anders will ich’s nicht sagen: "huldigen" ist ein zutreffendes Verb, auch wenn man’s nicht glauben mag, weil’s gar nicht passte zu angeblich so individualistisch und selbstbewusst und betriebs- wie systemkritisch agierenden Persönlichkeiten. Es fehlte nur noch, dass sie sich bekreuzigten. Die sonst auf ihre Unabhängigkeit schwörenden Geister frönten in seiner Gesellschaft kriecherischer Untertänigkeit, und zwar aus freien Stücken. Unter ihresgleichen wurden - in Bezug auf Chucho - Rangordnungen verhandelt.
Ein peinlicher Plot, der sich auf diesen Zusammenkünften abspielte. Ein sich selbst verschleiernder problematischer Prozess von Projektion, Servilität und Dominanz, den niemand enthüllen wollte. Eine Kleinbühne knechtischer und herrschaftlicher Attitüden, ein Konglomerat von Machtspielen. In unausgesprochenem Konsens wurde Chucho ein Charisma zugeeignet, von dessen Strahlkraft man sich blenden ließ. Man nahm’s nicht wahr oder gab’s nicht zu, dass man sich diesbezüglich in selbst verschuldeter Unmündigkeit übte. Wann immer ich’s wagte, jemanden über Umwege auf "heikle Interaktionen", auf "delikate Dynamiken" von Führerschaft und Subordination anzusprechen, oder wenn ich geradlinig fragte, ob sie oder er dieses kollektive Devote nicht ebenso schaurig fände, erntete ich echtes oder vorgetäuschtes Unverständnis, wahlweise sarkastische Kommentare, Überraschungsgrimassen, genervtes Zungenschnalzen, zischende Laute oder einen Klaps auf den Rücken. Man gab vor, nicht zu wissen, wovon ich redete, unterstellte mir alternierend Hypersensibilität, ein Zuviel an Einbildungskraft, hormonell bedingte Unleidlichkeit, Neid, Wahnsinn.
Ich bildete mir das alles nicht ein, erlebte sie oft genug, solche erstaunlichen Situationen. Wohin sich Rudolf alias Chucho drehte und wandte, auf all diesen Empfängen, Partys oder Meetings - man tastete sich an ihn heran, nahm seine jeweilige Gestimmtheit und sein jeweiliges Thema auf, tat alles, um herauszufinden, wonach es ihn verlangte, wovon er handeln, worüber er wie und mit welcher Leidenschaft sprechen oder schweigen mochte.
Zugegeben: Freundlich konnte er sein, voller Verve und Herzlichkeit. Solange, bis etwas nicht nach seinem Sinn. Solange, wie alles seinen Wünschen oder Vorstellungen entsprechend.
Die gebürtige Steirerin Eva Mayer war ab ihrem zwölften Lebensjahr Ensemblemitglied der Bühnen Graz. Ihre Schauspielausbildung absolvierte sie am Konservatorium der Stadt Wien. Nach Stationen am u.a. Grazer Schauspielhaus oder bei den Nestroyfestspielen auf der Burg Liechtenstein spielte Eva Mayer von 2006 bis 2016 als Ensemblemitglied am Wiener Theater in der Josefstadt. Zur Zeit ist sie am Schauspielhaus Graz in "Schlammland Gewalt" von Ferdinand Schmalz zu sehen.
Das alles im Denken in Form, zur Sprache zu bringen, dauerte seine Zeit. Derweil waren Rudolf und ich einander viel zu nahe gekommen, über Monate nahe geblieben, wobei wir’s schafften, unsere verwunderliche, beiden peinliche Affäre vor allen zu verbergen.
Etliche Intermezzi hatte es gebraucht, bis er sich ereignete, der Moment, an dem mit einem Mal nichts harmlos an dem "Ausnahmemeister" gewesen. Bei den letzten Vorbereitungen zur Finissage, im Rahmen übertrieben penibler, enthusiasmierter Recherchen zu Werk, Wirken und Person, waren mir Beispiele seines neuen, noch nicht fertigen Projekts vorgestellt worden. In fünf Monaten sollte die Vernissage von Caminos Precarios stattfinden.
Nun, wie soll ich’s beschreiben? Eine Offenbarung, durch und durch unheimlich? Wie Schuppen von Augen und so? Bilder dieser Serie hatten mich stutzen lassen. Sie waren mir allesamt vertraut. Und ich wusste sofort, woher: Arte-Callejero-Kunst aus Oaxaca - der Stadt, in der ich Jahr für Jahr je anderthalb bis drei Monate lebte. Voller Hoffnung, mich doch getäuscht, etwas falsch wahrgenommen, verzerrt erinnert, verwechselt, vermischt, erfunden oder geträumt zu haben, verglich ich meine privaten Fotos etlicher Murales, Graffiti, Schablonen- und Siebdruckkunstwerke mit Rudolfs Grafiken, Gemälden und Skulpturen. Kein Zweifel - bei den Kreationen der ambitionierten Caminos handelte es sich um gestohlenes Gut.
Wenige Stunden vor Start der Finissage stellte ich den Maestro unserer Galerie in meinem Büro zur Rede: Caminos Precarios, sososo. Wann er denn nach Oaxaca gereist, wie lang er wo geblieben sei? Ob die Spaziergänge durch die Stadt und an der Peripherie inspirierend gewesen? Falls er möge, könne ich ihm gern skizzieren, welchen Wegen durch welche "colonias" und "barrios" und "pueblos" - welchen Strecken durch welche Straßen, Gassen, "manzanas", an welchen Fassaden, Ecken, Nischen, Parks vorbei - sich sein aktueller Raubzug verdanke.
Rudolf tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn. Wieso die Unterstellung, wozu der vorwurfsvolle Ton? Ich stierte ihn an: Ob er denn ernsthaft glaube, damit durchzukommen? Es sei offenkundig, wie häufig, wie systematisch er von gewissen Arte-Urbano-Bildern abgekupfert habe. Damit er mich nicht missverstehe: Ich spräche nicht von dem einen, dem anderen Sujet, vereinzelten Motiven, Ähnlichkeiten von Figuren oder dergleichen. Viel schlimmer sei’s. Er habe sich jeweils fast das große Ganze angeeignet.
Die Bildnisse der Artefakte seiner noch nicht abgeschlossenen Serie Caminos Precarios, die er als die seinigen bezeichne, existierten bereits: in Oaxaca, im öffentlichen Raum. Nicht wenige stammten von auf ihren Werken nicht namentlich genannten Künstlerinnen und Künstlern politisch orientierter Kollektive, die sich zum einen für demokratische Gesellschaften sozialer Gleichheit engagierten, zum anderem für ein radikaleres, umfassender emanzipatorisches Verständnis von Kunst. Habe er denn irgendeine Ahnung von der Geschichte des Muralismo in Mexiko? Sei er sich über die Bedeutung bestimmter Aspekte zeitgenössischer Arte Callejero im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischer Aufklärung und linken Bewegungen im Klaren? Nein, damit halte sich jemand wie er nicht auf, oder? Er, der Egomane mit der Vorliebe für ironisch-ästhetische Spielereien und dem Image vom weiten Horizont, habe die Chuzpe, einfach ein paar Darstellungen jener Graffiti, Murales, Poster zu klauen. Dies passiere noch nicht mal für irgendeinen besonderen Zweck, sondern bloß zur persönlichen Kapital- als Renommeeakkumulation. Chapeau!
Rudolf schien weit davon entfernt, irgendetwas erklären zu wollen. Er versuchte noch nicht mal, zu beschwichtigen. Auf die eigentliche Aussage ging er mit keinem Wort ein. Und mir, der fassungslosen Anklagenden, verweigerte er jede Empathie. Hob er affektiert die Brauen, beteuerte ich mit bitter gewordener Stimme, über "mehr als nur Indizien, über Beweise" zu verfügen.
"Voilà, meine Oaxaca-Street-Art-Fotos" - ich griff nach einem Stapel, klatschte eins nach dem anderen auf meinen Schreibtisch -, "na sowas, hier sind sie ja längst, all die Gestalten, Szenen, Gesten aus deinen topaktuellen Caminos."
Bei einer Aufnahme hielt ich inne. "Sembremos suenos y cosechemos esperanzas. - Säen wir Träume und ernten wir Hoffnungen!"
"Garantiert deine Lieblings-Wandmalerei, oder?" - Rudolfs Tonfall war süffisant geworden, aufs despektierlichste: "Ein Töpfchen mit diversen Ingredienzen, und - tataaa, schon brodelt ein glühendes Seelchen: Man nehme eine blaue Fassade, ein inmitten von bunten Riesenblüten sitzendes Indígena-Mädchen in Schwarz-Weiß, das kämpferisch oder melancholisch oder zuversichtlich in den Himmel oder eine Sphäre voll von Friede-Freude-Eierkuchen oder weiß der Kuckuck wohin schaut. Mit beiden Händen hält sie ein Herz, aus dem Blumen sprießen. Oder seltsame Schwammerl? Außerdem gibt’s ein Band samt Zeilen auf Spanisch. Sicher was ›ungemein Bewegendes‹, stimmt’s?" "Ja", sagte ich, "ita vero est, du arroganter Affe." Auf jener Schriftrolle stünde nämlich eine Passage aus einer Rede der mixtekischen Menschenrechtlerin Alberta Carino, die im April 2010 von Paramilitärs erschossen worden. Und der einfach wunderschöne, einprägsame "mural" sei im Übrigen eine relativ bekannte Arbeit des Kollektivs "Lapiztola" respektive "Lapiztola Stencil". Man habe das Bild im öffentlichen Raum, in der Altstadt Oaxacas bestaunen können, bis es von den Behörden - und zwar im Oktober 2015 - leider …
"Eine dringliche Anfrage" - Rudolf unterbrach mich mitten im Satz, "könntest du dein Referat vielleicht nach der Finissage fortführen? Denn jetzt Folgendes …" Er sog Luft ein: Mein "Hochstapler- oder Plagiatsverdacht" sei erstens Humbug. Zweitens hätte er die Caminos-Reihe noch gar nicht abgeschlossen. Drittens - Rudolf machte eine wegwerfende Geste - füge er sowieso Hinweise zur Entstehungsgeschichte hinzu. Viertens wisse ich nichts - "auf Spanisch: nadaaaaa" - von den "Aufgaben der Appropriation Art", dem "Zauber der Trash-Veredelung", der "Verfremdung von Vorgefundenem". Diesbezüglich sei ich so naiv wie meine geliebten Papiervögel, die da - er fingerte nach einem Foto auf dem Schreibtisch - pathostriefend aus der geöffneten Handschale eines grundgütigen Geschöpfs emporstöben. Fünftens - er schritt auf mich zu, stand direkt vor mir, auf Tuchfühlung, starrte mir mit einer kaum beschreibbaren Unverschämtheit in die Augen - solle ich meine »Sicht der Dinge revidieren und mich für die skurrile Bezichtigung entschuldigen«. Kleiner Tipp: Das Projekt sei noch nicht vollendet. Nichts davon habe er bereits ausgestellt, auf seiner Website oder sonstwo beworben. Ob ich das verstanden hätte?
Ich wusste nicht, wer das war, in dessen Pupillen sich mein Gesicht spiegelte. Ich wusste nicht, wer das war, der mir riet, "meine Phantastereien in den Griff zu kriegen«, bevor er sich abwandte, das Foto mit den flatternden Papiervögeln zerriss, die Schnipsel auf den Boden klatschte, die Tür öffnete, um erhobenen Hauptes davonzustolzieren und sogleich mit meinen emsig den Ausstellungssaal dekorierenden Kollegen weiterzuplaudern. Fröhlich drang seine Stimme zu mir herüber. Sie war von einer Leichtigkeit, die mich - schweren Herzens - beinahe vorzeitig zu Boden zwang.
Sooft ich während der Finissage am Abend versuchte, mich mitzuteilen, scheiterte ich. Trotzig probierte ich’s weiter. Noch bevor ich die Tatbestände dar-, die Fotos vorlegen konnte, winkte man ab. Nicht nur, dass mir niemand glauben wollte. Ausgerechnet Chucho - eine Kapazität? Sowas habe jemand wie er nicht nötig. Man nahm mir die Wut hinterm Unbehagen übel, den moralischen Impetus. Meine ohnehin vorsichtig formulierten Sätze wirkten wie dreiste Verleumdungen seitens einer Verzweifelten. Von Kolleginnen und Kollegen, denen ich mich anvertrauen, die ich an meinen Entdeckungen teilhaben lassen wollte, wurde ich hernach mit Argwohn gemustert, für den Rest des Fests gemieden. Meist folgte eine Verteidigung, oder besser: eine Lobpreisung Chuchos.
Warum meine Aversion? Ich sei doch sonst nicht so missgünstig? Das wäre überhaupt nicht meine Art, nicht wahr. Diese Verbissenheit, diese Bitterkeit stünden mir nicht. Man mutmaßte, ich sei verliebt. Ob ich’s mir nicht eingestehen möge? Habe er etwa meine Avancen zurückgewiesen? Deswegen meine ungestüme Abneigung? Solche Anschuldigungen gegen »unseren Star des Abends" seien nämlich eine »himmelschreiende Impertinenz«. Und: Nein, man habe keine Lust, "in Ruhe zuzuhören". Was falle mir ein, weiterhin zu insistieren und zu behaupten, die Geschehnisse schildern, die Sachverhalte samt Beweisen aufs Tapet bringen zu können. Gewiss tue man gut daran, das Gespräch an dieser Stelle abzubrechen und den Mumpitz - zwecks Vermeidung des Verlusts meiner Reputation - schnellstmöglich zu vergessen. Denn zweifellos handle es sich bei Chucho um einen brillanten, weltoffen toleranten, weitläufig gebildeten, aparten, witzigen, sowohl erfolgreichen als auch entspannten, bei aller Prominenz redlich bescheidenen Künstler. Und dies sei die bestens besuchte Finissage seiner fulminanten Rauminstallationen und ich bitte eine loyale Galerien-Repräsentantin, die sich hoffentlich - "verdammt noch mal!" - adäquat zu benehmen wisse. Oder etwa nicht?
Gegen Ende der Finissage war ich erschöpft vom vielen adäquaten Benehmen. Unendlich genervt saß ich auf einem der Sofas hinterm Buffet und dachte daran, wieder einen Schlussstrich zu ziehen, den x-ten unter ungezählten: zu kündigen, diesem selbstverliebten, selbstgerechten Betrieb den Rücken zuzukehren, der dauernden Betriebsamkeit auch. Vielleicht sollte ich in Höhlen an pazifischen Küsten hausen, Papiervögel züchten? Ein Glas Wein nach dem nächsten trank ich auf ex.
Niemandem schien aufzufallen, dass ich auf die Armlehne zu schreiben begann. Und ich bemerkte es erst, als ich stockte, die aufs weiße Leinen gekritzelten Sätze las, Zeile für Zeile in Kugelschreiberblau: "Alles, was man wollen kann, fällt ihm zu. Er ist ein Schatz, der sich nicht selbst zu heben hat …"
Ich schreckte auf, war wie vor den Kopf gestoßen: Das könnte ein elendiglich emphatischer Einladungstext werden, für die Vernissage von Caminos Precarios. Schon schrieb ich weiter, auf die Sitzfläche neben mir: "Uns kam das 'Zwischen', die Welt, abhanden."