"The Islands I-XII"

GUGGENHEIM

Ö1 Kunstgeschichten

"Die Insel ist eine Leinwand" von Margret Kreidl

Es sind zwölf quadratische Bilder, die die kanadisch-amerikanische Künstlerin Agnes Martin als ein einziges Bild verstanden hat. "The Islands I-XII", entstanden 1979, zeigt helle, feinstrukturierte Farbflächen. Margret Kreidl schrieb darüber eine literarische Meditation, die schließlich mit dem allerletzten Bild endet, das Agnes Martin in ihrem Todesjahr 2004 gemalt hat: "Untitled" besteht aus zwei kalligraphisch anmutenden Tuschelinien auf weißem Papier. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Edith-Ulla Gasser.

Margret Kreidl

LUCAS CEJPEK

Margret Kreidl, Salzburgerin des Jahrgangs 1964, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Sie schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik und Prosa, sowie Textinstallationen für den öffentlichen Raum. Das Überschreiten und Überschreiben der Gattungsgrenzen ist für sie Programm, dazu gehört seit vielen Jahren auch die Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst.

Die quadratische Leinwand betrachten.
Die Leinwand ist nicht weiß.

Grundieren: Ein fester Grund ist nötig.
Die Leinwand ist der Grund.
Die Leinwand ist die Lehre.
Die Leinwand ist nötig.
Das ist die Leinwand,
jetzt brauchst du Striche.

Die grauen Striche zeichnen ein Gehege ab.
Orientierung.

Etwas, das erst noch zu entdecken ist:
undurchsichtig
unsinnig
anziehend
vielleicht gewalttätig
etwas Verschleiertes
eine Traurigkeit
erhaben
grundlos.

Die Striche, die vor dir aufleuchten.
Die Striche glühen.

Die Glut wächst.
Weißglut.
Du zitterst.

Während du auf dem Boden liegst,
kämpfst du mit einer fliehenden Frau.
Reden hilft nicht.

Du bleibst mit geschlossenen Augen liegen.
Du beginnst zu glühen.
Du glühst in der Glut.
Du öffnest den Mund.
Du siehst den Gesang
auflodern und verlöschen.

Eine schimmernde Linie, die sich dem Erfasstwerden entzieht.
Die Linie wird immer dünner.

Ein schwaches Flirren.
Eine leicht glänzende Grafitlinie.

Bleistiftraster auf weißem Grund.

Katharina Knap

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Katharina Knap wurde 1982 in Wien geboren. Nach Engagements in Graz, Mainz, Leipzig oder Stuttgart gastierte sie unter anderem mit dem Burgtheater-Ensemble bei den Salzburger Festspielen. Seit 2017 ist sie freie Schauspielerin. 2014 wurde sie von der Zeitschrift "Theater heute" zur "Nachwuchsschauspielerin des Jahres" gekürt.

Die Leinwand ist eine Tafel für Reihenfolgen und Abläufe,
auf der du alles einsetzen kannst.

Die Grundierung nimmt gleichmäßig Licht auf.

Zu den Strichen gehört ein Schatten,
ein nicht ausgesprochener Schatten.

Sechsunddreißigtausend Striche.

Leinwand.
Du wirst ins Joch gespannt.

Du setzt die Striche zu einer Linie zusammen.
Das ist alles.

Unaufhörlich Linien ziehen
auf der Leinwand der Leinwand
auf den Grund gehen.

Grafitlinien.
Grafitraster.

Das Geräusch des Bleistifts, der auf der Leinwand über ein Lineal gezogen wird.

Handwerk.
Jeder Schritt ist an eine Vorschrift gebunden.

Die Bahnen des Bleistifts.
Während du die Bahnen ziehst, sagst du:
Der Bleistift tut seine Wirkung.

Stille schaffen.
Eine dichte Stille.
Eine noch dichtere Stille.

Du konzentrierst dich auf die Befolgung der Vorschriften.
Lineal und Klebeband.

Das Raster ist ein leuchtendes Behältnis.
Ein luftiges Gehäuse, Gerüst, Gehege.

Ein Gehege für Bleistiftlinien.
Ein Gehege für Rechtecke.
Ein Gehege für die Farbe.

Du ritzt das Raster in den feuchten Malgrund.

Erkenntnis.
Abstand.

Das Raster leistet dir Widerstand.
Das Raster bedrängt dich.
Du hängst am Raster.

Klassische Form
schwer
streng
sachlich
beständig.

Mit Grafitstiften und Buntstiften ein Raster auf die kaum präparierte Leinwand ziehen.

Und wenn das Raster nur ein Vorwand ist, um weitere Raster
zu schaffen?
Raster höherer Ordnung.

Trost der Linien.

Die Linien sind durch einen Abstand miteinander verbunden.
Zwischen den Linien beginnt die blaue Farbe aus der Leinwand
zu sickern.

Erwartung.
Erfüllung.

Diese Lust ist dir fremd, sie würde dich aufhalten.
Jeder Weg ist dir recht.
Warum sprechen die anderen immer von Hingabe?

Freiheit gibt es nur im Rahmen des Rasters.

Wenn du zurückgehst, sehr weit zurückgehst,
bis dorthin, wo der Horizont verschwindet.

Die dem Blick entzogenen Linien.

Ein Rahmen.
Quadrat aus Luft.

Die Linie ist das Unbekannte.

Die Raster haben einundzwanzig geheime Namen.

Der Strich ist eine Vision, die näher kommt.

Glühen im Licht dieses Strichs.
Du glühst.

Ein zittriger Strich.
Striche.
Die Striche haben keine Namen.

Du erfindest keine Striche, du wiederholst sie.
Alles, was geschieht, ist Wiederholung.

Ein Feld mit Strichen,
ein sanftes Wogen.

Striche, die du siehst,
und Striche, die du nicht siehst.

Noch nicht, noch nicht.

Der dunkle Strich eines weichen Grafitstifts.

Auf der Leinwand liegt eine dünne Staubschicht.

Die Mine des Bleistifts.
Du folgst den Bleistiftlinien.

Still
konzentriert
feierlich.

Das Ziehen der Linien und die Wirklichkeit verschwindet.

Staubfeine Verflechtung der Linien.

Nichts hinzufügen.
Nichts wegnehmen.

Du willst dich nicht dem Zufall aussetzen.
Du musst lernen, die Striche voneinander zu unterscheiden.

Keine wirklichen Handlungen.
Anstrengungen, für die du dich schämst.
Der Geschmack fehlt.

Die Leinwand ist weiß.

Elftausend Striche und keine Spur.

Befreiung.
Verzicht.

Die Bilder haben geheime Namen.
Sie zeichnen sich in der Luft ab:
Silbe für Silbe.
Du setzt die Namen zusammen,
damit der Honig zu tropfen beginnt.

Farbtusche und Bleistift.

Den Bleistift durch die Farbe stoßen.

Vibrieren.
Beben.
Zittern.

Die Striche nehmen ein Zittern an.
Vibrierende Linien.

Doppelte Bleistiftlinien.
Tuscheinseln.

Inseln
Insel Nr. 4
Acht Fische unter Wasser

Vielleicht spielt sich alles auf der Leinwand ab.

Das Feld
Fallendes Blau
Grauer Stein
Weißer Stein
Dieser Regen

Eine dunkle Grafitlinie: Glimmer.

Eine leicht zittrige
Linie, die Tusche
stirbt nicht.

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