Dornenkrone aus Licht

APA/dpa/Boris Roessler

Mit und ohne Bach

Die Matthäus-Passion

Im Rahmen eines Ö1 Programmschwerpunkts zur Matthäuspassion versucht Johann Kaup in der Sendereihe "Logos" mithilfe von Expertinnen und Experten das Bachsche Ausnahmewerk theologisch zu bewerten, in "Apropos Klassik" stellt Ihnen Gerhard Krammer unterschiedliche Vertonungen der Matthäus Passion vor und im Ö1 Hörspieltermin richten wir unser Augenmerk auf den Text der Matthäus-Passion.

Das 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführte Matthäus-Passion ist ein Höhepunkt der protestantischen Kirchenmusik. Ihre Aufführung dauert zweieinhalb Stunden und ist ursprünglich mit zwei Chören, zwei Orchestern und Solisten besetzt. Das Rückgrat bildet der vom Evangelisten Matthäus erzählte Bericht vom Leiden und Sterben Jesu Christi. Passionschoräle und erbauliche Dichtungen von Picander ergänzen die Passion.

Im Hörspielstudio

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Leonhard Koppelmann und Petra Morzé im Ö1 Hörspielstudio

Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach gilt als eines der zentralen Werke der abendländischen Musik. Sie verherrlicht das Heilswerk Jesu, erzählt von Schuld und Sühne, von Reue und Vergebung. Historisch gesehen bekräftigte die Matthäus-Passion aber auch antisemitische Haltungen.

Leonhard Koppelmann über die "Matthäus-Passion"

Als ich mit Kurt Reissnegger das erste Mal über die Idee gesprochen habe, die "Matthäuspassion" nur vom Libretto aus zu inszenieren, konnte ich mir das Projekt kaum vorstellen. Meine Vorbehalte und mein Respekt waren gleichermaßen zu groß. Vorbehalte, weil mit dem sogenannten Blutruf ("Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!") - eines der zentralen Narrative des neutestamentarischen Antisemitismus - in dem Werk eine zentrale Stelle einnimmt und Respekt, weil das Oratorium von Bach zu den bedeutendsten und schönsten Kunstwerken unseres Kulturkreises zählt.

Leonhard Koppelmann

Der Regisseur über seine Vorbehalte gegen den Stoff und dessen antisemtische Tendenzen und warum er sich mit dem Text letztlich doch aussöhnen konnte. Letztlich, so Koppelmann, gehe es um eine Botschaft von Hingabe und Liebe - jenseits religiöser Kanonisierung.

Auf die nachdrückliche Bitte hin, mich doch einmal genauer mit den Texten zu beschäftigen, entstand sofort ein größeres Interesse und sogar eine tatsächliche Bindung - vor allen zu den Gedichten von Picander und Paul Gerhardt, die verschiedenen Arien und Chorälen zugrunde liegen. Sie bilden ein starkes Gegengewicht zu der Verleumdungs-, Verrats- und Verurteilungsgeschichte des Evangeliums und erzählen von Zweifeln und Verzweiflung, von Liebe, von Hoffnung.

Plötzlich begriff und spürte ich, welche andere Qualität darin liegen könnte, einen quasi liturgischen Text mit einer anderen Prämisse zu lesen. Ohne die Überwölbung der wunderbaren Bachmusik und eben auch ohne den liturgischen Kontext der Messe, nur als Erzählung, als Textreflexion. Ich bin nicht gläubig, meine Eltern sind gemischtkonfessionell jüdisch-katholisch, trotzdem haben mich die Bibelgeschichten immer interessiert, mal als Nukleus unserer Kultur, mal als politisch-gesellschaftliches Werk.

Jetzt konnte ich für mich aber auch eine Kraft jenseits davon entdecken, es ist vielleicht das, was Johann Sebastian Bach und andere Komponisten vor und nach ihm, die Bildende Kunst und die Literatur bis heute inspiriert: eine sehr ursächliche Trias aus Liebe, Hoffnung und Verzweiflung. Weil die Geschichten der Bibel so archetypische in ihrem Erzählgrund sind (dabei in ihrer Naivität durchaus auch Märchen ähnlich), waren sie so von jeher eine Quelle für unendliche Variationen, Adaptionen und Interpretationen. Eine Stelle schien mir plötzlich ein Schlüssel für meinen Zugang zu dem Werk:

Du lieber Heiland, du,
wenn deine Jünger töricht streiten,´
dass dieses fromme Weib
mit Salben deinen Leib
zum Grabe will bereiten,
so lasse mir inzwischen zu,
von meiner Augen Tränenflüssen
ein Wasser auf dein Haupt zu gießen!

Die Matthäus-Passion

Beginn des Hörspiels von Leonhard Koppelmann; Sie hören Peter Simonischek (Erzähler), Claudius von Stolzmann (Jesus), Lilith Häßle (Magdalena), Musik: Lukas Schiske

Die universelle Kraft der Botschaft

Die Jünger kommen überhaupt nicht besonders gut weg in der Geschichte, sie streiten, sie schaffen es nicht in der Stunde seines größten (Selbst-)Zweifels bei ihm zu wachen, sie verraten ihn (nicht nur Judas, sondern ebenso Petrus).

Viele der Arien bei Bach werden von Sopran oder Alt gesungen, vielleicht hat das mit dazu beigetragen, dass ich bei meiner Einrichtung des Textes für ein Sprecherensemble, diese Texte und weitere einer Frauenstimme zugeordnet habe, so entsteht eine interessante Zwiesprache zwischen Jesus und einer Frau (Magdalena?), die als Einzige bereit und in der Lage ist, seine Liebes- und Hoffnungsbotschaft zu verstehen und anzunehmen. Befreit von der Institutionalisierung der Texte durch Kirche und Religion, gewinnt die Botschaft ihre ganz ursprüngliche und universelle Kraft zurück und ist in der Lage auch mir Ungläubigen Hoffnung und Kraft zu spenden.

Wir haben die Produktion am 26. Februar abgeschlossen, da wurden in Tirol die ersten beiden Coronafälle bekannt. Inzwischen hat sich das Antlitz der Welt vollständig geändert. Die Coronakrise bedeutet in jedem Fall eine tiefe Zäsur, auch wenn danach an vielen Stellen wieder schnell zum Alltag übergegangen wird. Jetzt aber in Mitten dieser Krise, helfen uns solche Texte (und unzählige andere Kunstwerke) einen Moment über uns selbst nachzudenken, unsere Handlungen in Frage zu stellen und uns vielleicht neu zu justieren.

Service

Mathias Hirsch, "Die Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs - Ein psychoanalytischer Musikführer", IMAGO, Psychosozial-Verlag, 2008