Personenkontrolle

APA/HANS KLAUS TECHT

Logos

Die infizierte Gesellschaft

"Logos" zur Frage: Was sind wir in Zeiten von Corona zu opfern bereit?

Keine Frage: Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Die Coronapandemie ist fraglos eine solche außergewöhnliche Situation. Die Normalität unseres Lebens wurde zum Schutz vor der Weiterverbreitung der Infektionskrankheit in einem Maß eingeschränkt, wie das bislang unbekannt und bis vor wenigen Monaten völlig undenkbar war. Dass das gesamte öffentliche Leben und auch große Teile des Wirtschaftslebens völlig zum Erliegen gebracht werden, hätte sich wohl kaum jemand auch nur träumen lassen, der Anfang des Jahres dazu befragt worden wäre. Die außergewöhnlichen Maßnahmen, die von der Bundesregierung getroffen wurden, zielten darauf ab, die Infektionsraten auf ein vernünftig handhabbares Maß zu senken, sodass die Gesundheitssysteme die Behandlung der Kranken gewährleisten konnten.

Demonstration der Initiative für evidenzbasierte Corona-Informationen (ICI) vor dem Bundeskanzleramt in Wien.

Demonstration der Initiative für evidenzbasierte Corona-Informationen (ICI) vor dem Bundeskanzleramt in Wien.

APA/HANS PUNZ

Aber die Coronapandemie wird die Welt mindestens so lang in Schach halten, bis eine Impfung gefunden wird. Ihre Folgewirkungen werden Jahre spürbar sein. So lang gilt es für die Bürgerinnen und Bürger, mit mehr oder weniger Einschränkungen zu leben, das heißt auch, persönliche Opfer zu bringen. Die von oben oktroyierten Verhaltensregeln werden gegen das Versprechen einer am Ende erlösenden Rettung eingetauscht. Das Motto lautet: "Ich opfere - und rette damit Leben." Das erscheint logisch und wird im Gestus der Alternativlosigkeit vertreten.

Wie lang darf eine Situation "außergewöhnlich" sein?

Die Frage aber ist: Wie lang darf eine Situation "außergewöhnlich" sein? Wie weit darf die Einschränkung der persönlichen Freiheit gehen? Ab welchem Zeitpunkt werden die damit verbundenen Kollateralschäden so groß, dass man die Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen neu überdenken sollte? Was sollen wir opfern in Zeiten der Corona-Angst? Und was dürfen wir niemals opfern, ohne den Boden eines demokratischen Rechtsstaats zu verlassen oder unsere Menschlichkeit zu verlieren?

In Zeiten der Krise entwickeln Menschen sehr unterschiedliche Reaktionsmuster. Im ersten Schock entsteht ein großes Bedürfnis nach Schutz, Sicherheit, Orientierung und Führung. Manche Beobachter/innen bezeichnen dies als "Herdenloyalität". Das konnte man sehr gut auch in Österreich beobachten. In den ersten zwei, drei Wochen wurden die erlassenen Einschränkungen der Freiheitsrechte von den allermeisten als nachvollziehbare und not-wendige Schutzmaßnahmen angesehen und befolgt. Auch eine Welle der gesellschaftlichen Solidarität wurde in zahlreichen kleinen Initiativen, von der Nachbarschaftshilfe bis hin zur Einkaufsorganisation bei Direktvermarktern, spürbar.

Kritischer Diskurs nach der Lockerung

Allerdings war auch zu sehen, dass der kritische gesellschaftliche Diskurs über die Reichweite und Anwendung bestimmter Maßnahmen und Regeln in den ersten Wochen ausgeblieben ist und erst jetzt, nach der Lockerung der Maßnahmen, ansetzt. Die Exekutive beispielsweise hat - wie manche Berichte nahelegen - offenbar teilweise überzogen reagiert und Banalitäten wie etwa das Kaffeetrinken solo auf der Parkbank mit exzessiven finanziellen Strafen belegt. Kritik am Ausmaß und der Tragweite der Maßnahmen wurde in den ersten Wochen der Corona-Aufregung in den sozialen Netzwerken als den ersten Wochen ausgeblieben ist und erst jetzt, nach der Lockerung der Maßnahmen, ansetzt. Die Exekutive beispielsweise hat - wie manche Berichte nahelegen - offenbar teilweise überzogen reagiert und Banalitäten wie etwa das Kaffeetrinken solo auf der Parkbank mit exzessiven finanziellen Strafen belegt.

Kritik am Ausmaß und der Tragweite der Maßnahmen wurde in den ersten Wochen der Corona-Aufregung in den sozialen Netzwerken als gemeingefährlich oder gar als "Vaterlandsverrat" denunziert. Es wurden jene "Abweichler" geächtet, die die verbliebenen vernünftigen Handlungsspielräume großzügiger auslegten als man selbst. In einigen Fällen ging das sogar bis zu einem gehässigen Denunziantentum von "Aufpassern" aus dem Volk oder auch manchen "netten" Nachbarn, die von einem bekannten österreichischen Chefredakteur als "Corona-Blockwarte" bezeichnet wurden.

Öffentlichkeit, Interaktion und Gemeinschaft

Auch die Diskussion darüber, ob man das Verhalten der Bürger/innen mittels Überwachungstechniken der Mobiltelefone kontrollieren soll, zeigt, dass manche schnell bereit sind, ihre Freiheit auf dem Altar der Sicherheit zu opfern. Ob solche Maßnahmen, die juristisch höchst umstritten sind, wieder zurückgenommen werden, wenn sie einmal erfolgreich eingesetzt wurden, ist fraglich.

Von den Covid-19-Maßnahmen sind die Bereiche Kultur, Sport und Religion besonders betroffen. Denn sie leben von Öffentlichkeit, von Interaktion und Gemeinschaft. Die Religionsfreiheit wurde - in Absprache mit den religiösen Institutionen des Landes - temporär eingeschränkt, was alle öffentlichen religiösen Feiern in Gemeinschaft betraf. Der am Karfreitag allein auf dem verregneten Petersplatz betende Papst Franziskus wird als ikonisches Beispiel dafür in die Geschichte eingehen. Doch lang können auch die Religionen einen Isolationszustand nicht gut durchhalten, nur als virtuelles Zeichen im Netz und ohne leibhafte Präsenz und persönliche Erfahrung.

Müssen wir der Gesundheit alles opfern?

Stichwort Leibhaftigkeit: Die seit Beginn der Coronapandemie propagierte Hygienepolitik heißt im Prinzip Berührungslosigkeit. Sie soll die Infektionsketten bremsen. "Halte Abstand!" und "Don’t touch!" lauten die Imperative, die Hautkontakt unter allen Umständen verbieten. Was bedeutet das aber beispielsweise für die zahlreichen älteren Menschen in Pflege, die entweder zu Hause oder in Heimen versorgt werden, aber nicht besucht werden dürfen? Viele brauchen den ganz persönlichen (Berührungs-)Kontakt mit ihren erwachsenen Kindern wie einen Bissen Brot, weil ihnen sonst nicht viel Leben bleibt. Ist Gesundheit immer und unter allen Umständen das Wichtigste? Müssen wir der Gesundheit alles opfern? Auch wenn es beispielsweise bedeutet, einsame, leidende und sterbende Menschen aufgrund von Besuchsbeschränkungen in ihren letzten Stunden allein zu lassen?

Eine moralisch eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Es gibt aber ein rechtsstaatliches Prinzip, an das jede hoheitliche Gewaltausübung gebunden ist: die Leitlinie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Demgemäß ist eine Maßnahme dann verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, geeignet, erforderlich und angemessen ist. In vielen spezifischen Situationen muss auch die/der Einzelne die Frage beantworten, welches Gut wichtiger und welches Verhalten angemessen ist. Erfordern außergewöhnliche Situationen nicht auch außergewöhnliche Lösungen?

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