Graffiti mit dem Gesicht eines afrikanischen Kindes

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Kulturelle Aneignung (I)

Mit oder ohne Rückgaberecht?

Dürfen Weiße Dreadlocks tragen, und dürfen andere Weiße sie skalpieren, was ja, wie viele von uns wissen, eine alte Kulturtechnik der First Nation People sein soll, die sie sich aber, wie wenige von uns wissen, angeblich von den Spaniern angeeignet haben? Genug des Witzelns, darum jetzt im Ernst.

Lord Nylons Schlüsseldienst: Kulturelle Aneignung - Teil 1

Dürfen sich hessische Steuerprüfer Maorimuster auf den Popo tattauieren lassen, dürfen sich Pariser Konzernbosse mit fernöstlichen Kampfsportarten gegen Gelbwesten wehren? Und dürfen sich Maori im Fasching als hessische Steuerprüfer verkleiden, die sich Maorimuster auf den Popo tattauieren ließen? Fragen über Fragen.

Die kulturelle Aneignung, die Cultural Appropriation, lädt zu Scherzen ein, die sich von meinen nur darin unterscheiden, dass sie nicht so lustig sind, und dass sie von groben Klötzen stammen, die jede Form von gesellschaftlicher Sensibilität ins Lächerliche ziehen. Denn der Kern des Problems ist sehr ernst zu nehmen.

Das fängt bei weißen Profiteuren von schwarzer Musikkultur an. Erinnern wir uns, als bei John Coltranes Wienkonzert 1962 enthemmte Peter-Alexander-Groupies skandierten: "Das ist kein richtiger Jazz - Wir wollen Peter." Es zeigt sich aber auch in den musikalischen Rekonstruktionen zerstörter jüdischer Schtetlkultur durch deutsche Klezmermusiker, deren Gewissensbefriedigungs-Klarinette so klingt, als hätte es nie nichtfolkloristische Kultur von Juden gegeben, und es zeigt sich, wenn Vertreter der privilegierten Mehrheit faszinierende Minderheitenkulturen vor lauter Respekt und Anerkennung vom Kulturmarkt schmusen.

Das Hauptproblem mit der kulturellen Aneignung ist der ziemlich dumme Kulturbegriff, der ihr zugrunde liegt.

Dieser Kulturbegriff geht von einer einheitlichen Hegemonialkultur und ebenso einheitlichen Minderheitenkulturen dauergekränkter Opfer aus, die man entweder als überlegener weißer Mediator bevormundet oder durch hysterische Selbstanklagen über die eigenen Privilegien in die freiwillige Assimiliation treibt.

Die Rede von der kulturellen Aneignung war zunächst der Antirassismus von US-Studenten, die die Welt nicht anders sehen können als durch ihre schicke Brille von Lifestyle, Identity und symbolischer Repräsentanz.

Sind US-Studenten wirklich dümmer als europäische Studenten? Nein, um Himmels Willen, sie sind natürlich genau so dumm. Aber aus mysteriösen Gründen stammen die meisten Studenten, hüben wie drüben, aus dem Mittelstand. Und weil viele von ihnen von materiellen Sorgen entlastet sind, verstehen sie oft den wahren Charakter gesellschaftlicher Probleme nicht, sondern glauben, die würden auf falschen Haltungen, Meinungen und Vorurteilen beruhen. Menschen, die so denken, haben in ihrem Wolkenkuckucksheim nichts Besseres zu tun, als für die Gleichberechtigung der Kulturen zu kämpfen und glauben, die Weltgerechtigkeit zu restaurieren, wenn sie feierlich den dampfenden Teller geklauter Spaghetti Bolognese auf dem Grab des unbekannten italienischen Einwanderers niederlegen.

Mit einem Wort: Sie verstehen gar nichts, nichts vom sozialen, vom politischen, vom dynamischen Charakter des Rassismus. Noch schlimmer: Sie gießen Öl ins Feuer des Rassismus. Warum? Weil ihre Vorstellungen von den Kulturen der People of Colour selbst Karnevalsmasken aus Plastik sind. Um Menschen ihre ethnische Kultur wegzunehmen, muss diese als kollektives Eigentum betrachtet werden, und dazu müssen Kollektive konstruiert werden. Sie betreiben einen Opferessenzialismus.

Essenzialismus. Falls Sie diesen Begriff noch nicht gekannt haben, dann merken Sie sich ihn.

Würde nämlich Anti-Essenzialismus als eigenes Schulfach gelehrt, wäre diese Welt nicht annähernd das Tollhaus, in dem Faschisten, ethnische Wichtigmacher aus gutem Haus und linksliberale Antirassisten mit vereinten Kräften daran arbeiten, soziale Widersprüche zu kaschieren, Klassenkämpfe in Stammeskämpfe umzuwandeln, durch Kulturschutz internationale Solidarität zu verhindern und bei der neoliberalen Segregation von Menschen in Gruppen zu assistieren, damit diese nicht gemeinsam nach oben, sondern in tausenden Identitäts-Gangs aufeinander und runtertreten.

Eine Afrikanerin verriet mir kürzlich: Bitte lasst den weißen Idioten diesen Fluch unserer Kultur, oder was sie sich darunter vorstellen, von unseren Schultern nehmen. Bitte, ihr Käsegesichter, eignet euch unseren Ethnokitsch an, der nichts mit wirklicher Tradition zu tun hat, klaut uns statt unsren Bodenschätzen und Hoffnungen unsere Kultur, damit wir endlich Punks, Flappergirls, französische Existenzialisten aus dem Jahr 1954 oder fröhliche Maoris werden können, die hessische Steuerprüfer mit Maoritattoos auf dem Popo nachmachen.

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