Ausschnitt "Game of Thrones"

Bußgang aus "Game of Thrones" - HBO/WARNER BROS.

Radiokolleg

Scham - Gefühle der Schuld, des Scheiterns

Heinz-Christian Strache meinte im Mai 2020 in einem Nachrichteninterview, er habe sich "geniert" als das Ibiza-Video publiziert wurde. Vielleicht hilft die öffentlich zur Schau gestellte Scham zur besseren sozialen Reintegration? Sie löst jedenfalls Mitgefühl aus, wird als Einsicht gewertet und ist am Medienmarkt eine nützliche Taktik.

Das Wort Genieren wurde übrigens im 18. Jahrhundert von dem französischen gêner für behindern oder belästigen entlehnt und bedeutet auch "sich Zwang antun" oder "sich gehemmt fühlen".

Weitere Wortbedeutungen sind bedrücken, quälen und hindern, aber auch Zwang, Qual, Verlegenheit und Bedrängnis stehen im Kontext des Genierens. Früher wurde das Wort auch für "Folter" bzw. für "zum Geständnis zwingen" verwendet.

„Scham ist das stärkste soziale Gefühl, das wir Menschen haben“

Reinheit verkörpert Gesundheit. Rein von Schmach, rein von Versehrtheit, rein von Problemen. Wir haben eine gewissen Sehnsucht nach Ordnung und Übersichtlichkeit, diagnostiziert der Philosoph Daniel Tyradellis.

„Reinheit hat immer auch etwas mit Einfachheit zu tun. Das Reine ist klar getrennt, separiert, man kann es besser vergleichen. Wenn alle rein sind, dann sind sie scheinbar auf ihren Kern reduziert. Dann ist die Gefahr, dass etwas anders, schief läuft geringer. Das irgendwelche unsichtbaren Krankheiten, die ja mit der Unreinheit assoziiert werden, eben nicht vorhanden sein können.“

Und: Reinheit stellt eine Sehnsucht dar: Denn so könne Dir nichts passieren. Du bist geschützt. Vielfalt lasse sich für viele schwer händeln. Reduktion und Ausschluss sind die schnelle praktische Lösung.

„Der Geist soll sich gewöhnen, seine Freuden aus sich selbst zu schöpfen“

Der griechische Philosoph Demokrit setzte voraus, dass jeder Mensch in sich einen moralischen Maßstab vorfindet und daher die Selbstscham zentral für das moralische Selbstbewusstsein sei. Diese Sichtweisen sind durch Sokrates, Platon und die Stoiker fortgeführt worden. In säkularisierter Form sind sie auch in Kants kategorischem Imperativ zu finden.

Imperative - egal ob kategorisch oder nicht - können nicht allgemein gültig sein und gefallen nicht allen. Friedrich Nietzsche kritisierte alles was mit Scham, Moral und Vorschrift zu tun hatte: "Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? - Sich nicht mehr vor sich selber schämen."

Aufforderungen „Du sollst“ oder „Du musst“ engt viele ein und schafft Kritik. Dass sich der Unrecht Handelnde vor sich selbst schämen soll und dieses Gefühl als ethischen Kompass nutzen könnte, setzt einen hohen moralischen Maßstab voraus. In der Neuzeit wurde dieser Appell an die Vernunft in Frage gestellt.

"Scham ist ein sozialer Klebstoff, der sichert, dass ich die Standards, die Konventionen einhalte."

„Jedes Gefühl ist evolutionär gesehen notwendig. Auch negative Gefühl, die wir eigentlich nicht wollen, wie zum Beispiel Gier, Eifersucht. Und Scham ist auch ein Gefühl für das man sich, paradoxer weise, schämt“, sagt der Psychologe Jens Tiedemann. Er beschäftigt sich mit Intersubjektivität im Kontext der Scham. Intersubjektivität beschreibt die Bezogenheit zwischen Menschen und deren Prozessen.

"Scham ist ein sozialer Klebstoff, der sichert, dass ich die Standards, die Konventionen einhalte. So gesehen ist Scham evolutionär gesehen, sehr wichtig." Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel erkannte diese Suche nach Anerkennung als wesentlichen Antrieb des menschlichen Daseins, ergänzt Philosoph Daniel Tyradellis.

Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er sich von Anderen anerkannt weiß. Dieses Gefühl will der Mensch auch immer wieder herstellen. Oder anders gesagt: Die Angst vor Ablehnung ist ein Antrieb, um soziale Normen zu entwickeln.

"Scham isoliert, weil alle glauben, sie seien mit ihrem Makel die Einzigen."

Beschämung kann daher eine wirksame Waffe sein, um Gegner an den Rand zu drängen - egal ob am Schulhof, in der Familie, in der Bierrunde oder der Bulimie-Selbsthilfegruppe. Vergesellschaftete Beschämung hat sozialpolitische Dynamik und ist gefährlich. Scheitern, schlechtes Gewissen und Schuldgefühle befeuern Scham - aber auch als politisches Instrument kann das ungute Gefühl manipulativ genutzt werden.

Dieses diffuse Gefühl Scham kann also ganz konkrete Auswirkungen haben. Es kann sich sogar körperlich zeigen. Wenn wir abgewertet werden könnten, verfärbt sich das Gesicht rot. Bisher hat die Forschung keine eindeutige Antwort warum. Eine Möglichkeit wäre, dass Erröten ein Zeichen von Reue darstellt und so vor sozialer Ausgrenzung schützt. Wer für sein Fehlverhalten keine Scham zeigt, wird ausgestoßen.

Frau hält sich Kopf

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

„Schuld bedeutet, ich habe einen Fehler gemacht. Scham heißt ich bin der Fehler.“

„Scham isoliert, weil alle glauben, sie seien mit ihrem Makel die Einzigen. Scham choreografiert Existenzen. Scham verzerrt die eigenen Perspektive - weil das, was man an sich selbst unverzeihlich hält, bei anderen in der Regel verzeihlich ist. Oder gar nicht der Rede wert.“

Brené Brown ist eine US-amerikanische Autorin psychologischer Schriften zur Lebensführung. Sie studierte Sozialarbeit an der University of Texas in Austin und wurde dort 2002 promoviert. In ihren Büchern, Fernseh- und Internetauftritten bringt Sie einen wichtigen Punkt zum Thema Scham: „Schuld bedeutet, ich habe einen Fehler gemacht. Scham heißt ich bin der Fehler.“