Milena Michiko Flasar

VERLAG KLAUS WAGENBACH/HELMUT WIMMER

Tonspuren

Milena Michiko Flasar über den Rückzug aus der Gesellschaft

Was es bedeutet, zu Hause eingesperrt zu sein, das weiß man in Japan nicht erst seit der Corona-Krise. Der Rückzug in die eigenen vier Wände ist dort ein Massenphänomen, dem sich Flasar in ihrem 2012 erschienen Buch „Ich nannte ihn Krawatte“ widmet. “Hikikomori” nennt man in Japan Menschen, die sich vollkommen von der Gesellschaft abwenden.

Schätzungen zufolge leben in Japan bis zu einer Million Menschen in dieser selbstgewählten Isolation. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich, oft steckt Leistungsdruck oder Mobbing in der Schule dahinter. Der Hikikomori in Milena Michikos Flasars Roman verlässt sein Zimmer nicht, da er das Gefühl hat, versagt zu haben. Er selbst war daran beteiligt, eine Mitschülerin zu mobben - mit tragischen Folgen, die er sich nicht verzeiht.

"Ich wollte niemandem begegnen. Jemandem begegnen bedeutet, sich zu verwickeln."

Nach zwei Jahren wagt er einen ersten Schritt nach draußen, tastet sich durch eine fremde Welt. Eine Parkbank wird zu seinem Zufluchtsort und zu seiner neuen Behausung. Dort trifft er auf einen älteren Herrn im Anzug, mit Aktentasche und rotgrau-gestreifter Krawatte.

Der „Salaryman“, so nennt man in Japan hartarbeitende, männliche Firmenangestellte, verbringt seine Zeit ebenso im Park. Beide sind aus dem Rahmen gefallen und verweigern sich der Norm. Erst einem fremden Gegenüber erzählen sie nach und nach ihr Leben und setzen zögernd wieder einen Fuß auf Erden.

Pensionierter-Ehemann-Syndrom

Auch der Büroangestellte konnte dem Leistungsdruck nicht standhalten. Vor kurzem wurde er nach 35 Jahren in seiner Firma wegen Ineffizienz entlassen. Er war am Schreibtisch eingeschlafen. Seiner Frau hat er nichts von seiner Entlassung erzählt. Stattdessen geht er weiterhin am frühen Morgen mit einem von ihr liebevoll zubereiteten Bento, einer Mahlzeit zum Mitnehmen, aus dem Haus.

Dass auch die Ehefrauen darunter leiden, wenn ihre vormals vielbeschäftigten Gatten plötzlich viel Zeit zu Hause verbringen, davon erzählt Milena Michiko Flasar in ihrem Roman „Herr Kato spielt Familie“. Das Phänomen hat sogar einen Namen: RHS steht für „Retired Husband Syndrome“, auf Deutsch „Pensionierter Ehemann-Syndrom“. Das Syndrom kann zu Hautausschlägen, Rückenschmerzen, Depressionen und sogar zu Herzbeschwerden führen. Ähnliche Auswirkungen dürfte die Corona-Pandemie zeigen. Experten rechnen mit fünffach höheren Scheidungsraten.

Tod durch Überarbeitung und Pensionsschock

Die Gefahr, am Ende des Berufslebens in ein seelisches Tief zu geraten, ist auch hierzulande bekannt. Der Pensionsschock geht Hand in Hand mit dem „Retired Husband Syndrome“ und trifft vor allem Menschen, die sich über ihre Arbeit definiert haben. Vorwiegend sind das Männer. In Japan zeigt sich das noch deutlicher. Dort gibt es ein eigenes Wort für „Tod durch Überarbeitung“: Karoshi.

"In Japan ist man mit seiner Frau verheiratet, aber auch, und vielleicht sogar an erster Stelle, mit seiner Firma. Und das hat natürlich auch Konsequenzen für die Männer, man hat in der Zeit, in der man intensiv gearbeitet hat, auch gar keine Chance auf Freizeit, keine Chance auf Freundschaften oder Hobbys. Und wenn die Arbeit zu Ende ist, gibt es kein Netz, man fällt dann eigentlich ins Bodenlose", erzählt die Autorin.

"Der Ruhestand steht dir schlecht. Deine Frau hat bestimmt schon die Schnauze voll von dir."

Der pensionierte Herr Kato und seine Frau befinden sich in genau dieser misslichen Lage. Im Haushalt ist er überflüssig, und den ganzen Tag spazieren zu gehen, stellt auch keine befriedigende Lösung dar. Insgeheim wünscht sich Herr Kato schon eine Krankheit herbei, dann wäre er zumindest mit Arztbesuchen hinreichend beschäftigt.

Die beiden sitzen sich am Esstisch wie zwei Fremde gegenüber. Die Kinder sind groß geworden und außer Haus, man hat sich nichts mehr zu sagen. Und plötzlich wird klar, dass der Bruch, der nun offensichtlich wird, schon viel früher stattgefunden hat. Die beiden haben sich nie genug Zeit füreinander genommen. Sie reden sehr oft in Phrasen und Floskeln und daher indirekt aneinander vorbei.

Buchumschlag

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"Stand-In-Agenturen": Freunde zum Mieten

Doch eines Tages trifft Herr Kato die junge Mie, die ihm verspricht, ein Gefühl des Gebrauchtwerdens zurück zu geben. Sie engagiert ihn in ihrer Agentur „Happy Family“, die andere Menschen glücklich machen will, indem sie für kurze Zeit Familienmitglieder oder Freunde vermittelt. Sogenannte „Stand-In-Agenturen" gibt es in Japan tatsächlich. Man kann etwa Gäste für seine Hochzeit buchen, oder einen Freund, der mit einem kuschelt und kocht.

Herr Kato spielt einen Opa, einen Exmann und einen Firmenchef und er tut dies höchst überzeugend. Langsam findet er so auch in seine Rolle als Ehemann zurück. Der Roman „Herr Kato spielt Familie“ erzählt von der Entfremdung auf mehreren Ebenen: Innerhalb der Familie, in der Gesellschaft, aber auch gegenüber Dingen. Als mahnendes Symbol hierfür steht im Buch ein kaputtes Radio. Herr Kato findet selbst im Ruhestand nicht die Zeit, es zu reparieren.

In der Schnelllebigkeit unseres Alltags hätten wir es verlernt, Verbindlichkeiten einzugehen, meint Milena Michiko Flasar. In den „Tonspuren“ spricht die 1980 in St. Pölten geborene Autorin mit japanischen Wurzeln über den Rückzug aus dem Arbeitsleben, den Rückzug aus der Gesellschaft, die damit gewonnene Zeit und neues Glück.

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