Udo Lindenberg

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Salzburger Nachtstudio

Vom Handkuss zum Stinkefinger

"Küss die Hand!", hieß es am 16. September 2020 im Großen Sendesaal des Wiener Radiokulturhauses. Stefan Verra, der gegenwärtig angesagteste Experte für Körpersprache im deutschsprachigen Raum und der Historiker und Wissenschaftsjournalist Martin Haidinger traten vor ein wissbegieriges Publikum um den Veränderungen der letzten Jahrzehnte nachzuspüren: In Körpersprache, Mode und anderen kulturellen Äußerungsformen.

Heraus kam das Wissenschaftskabarett eines ungleichen Duos. Der Osttiroler Stefan Verra misst 1,60, bringt gerade einmal 60 Kilo auf die Waage, hüpft behände auf der Bühne herum und beherrscht vom Primatengang bis zur Geste feiner Leute jeden Körpertrick, während der Wiener Martin Haidinger mit 1,90 Metern Körpergröße und 130 Kilo Lebendgewicht eher den behäbigen Part gibt.

So stehen zwischen Verra und Haidinger 30 cm, 70 Kilo und ein Babyelefant Distanz.

"Man sieht den Standesunterschied."

Zuvorderst Hotel Sacher, Aufnahme vom Beginn der Operngasse, 1897.

ÖNB

Zuvorderst Hotel Sacher, Aufnahme vom Beginn der Operngasse, 1897.

Vor 75 Jahren trugen Männer Hüte und gingen aufrechter, als heute und Hosen bei Frauen waren die Ausnahme. Oder trügt der Schein und wir bilden uns das alles nur ein, wenn wir alte Fotos und Filme betrachten?

Die ältesten Filme in Österreich wurden im Jahr 1897 aufgenommen. Auf ihnen kann man sehen wie Menschen verschiedenen Standes in Wien, vor der Oper oder dem Hotel Sacher, vorbeigehen. Dabei kann man unterschiedliche Körperhaltungen beobachten. Herrn mit Hüten und Spazierstock haben einen aufrechten Gang, Menschen die körperlich viel arbeiten sind an einem etwas gebeugten Gang gut zu erkennen und Handwerksburschen an ihren Knotenstöcken. Da die Menschen damals viel mehr zu Fuß unterwegs waren, als heute, brauchten sie Stöcke um lange Wege zu bewältigen. Man kann also am Gang den Standesunterschied erkennen.

„Das Bedürfnis nach Langeweile, in der Stimme wie auch in der Körpersprache, gibt so etwas wie Sicherheit."

Die Damenmode war in allseits hochgeschlossen und züchtig. Erst das Dritte Reich schuf das laszive „Dirndl“ mit der Betonung weiblicher Körperformen. Steckten seit Joseph II. bis hin zu Diktatoren wie Hitler alle heimischen Staatsoberhäupter in Uniformen, hatte man 1945 die Nase voll von uniformierten Demagogen. Es entstand das Bedürfnis sich zu „entuniformieren“, man wollte keine Uniformen und keinen Gleichschritt mehr. "Die Menschen sehnten sich nach den alten Anzugstypen zurück. Den Gemütlichen, Behäbigen, meint Martin Haidinger

„Das Bedürfnis nach Langeweile, in der Stimme wie auch in der Körpersprache, gibt so etwas wie Sicherheit. Je langsamer einer spricht, desto vertrauenswürdiger ist er. Das kann man von Bruno Kreisky über Rudolf Kirchschläger bis Heinz Fischer beobachten. Das ist ein Erfolgsrezept“, sagt Martin Haidinger.

"Die Bussi, Bussi-Gesellschaft ist nichts Neues."

Der damalige Bundespräsident Jonas gibt seiner Frau einen Handkuss, 1969.

ÖNB

Der damalige Bundespräsident Jonas gibt seiner Frau einen Handkuss, 1969.

Die 70er Jahre brachten dann im Gefolge der „68er-Revolution“ eine gesellschaftliche Lockerung. Doch der Handkuss hat das alles überlebt, zumindest in Österreich, vor allem in Wien, doch scheint er in Zeiten von Corona zusammen mit der Küsserei nun doch aus der Mode zu kommen.

Dem wiederspricht Stefan Verra: „Der Handkuss ist nicht ersatzlos gestrichen worden. Es scheint so, dass wir das Bedürfnis nach Nähe haben, um dem Anderen zu garantieren, dass zwischen uns kein Konflikt entsteht. Früher mit Handkuss, heute mit Wangenkuss.

"Schon die alten Römer kannten den „digitus impudicus“

Genauso viel Tradition wie der Handkuss hat der Stinkefinger, obwohl er in unseren Breiten erst nach 1945 ein Massenphänomen wurde. Indes kannten ihn schon die alten Römer als „digitus impudicus“, als „schlimmen Finger“. Dass es sich dabei um den Mittelfinger handelt ist laut Stefan Verra völlig klar, denn der ist der längste Finger und damit läge das phallische Signal sozusagen auf der Hand.

Natürlich gibt es Kulturen in denen der Daumen ein sehr fragwürdiges Signal ist. "Global hat sich aber, auch durch die Unterstützung der Medien, der „digitus impudicus“, der Stinkefinger, durchgesetzt", sagt Stevan Verra. Man darf aber nicht glauben, dass der Stinkefinger ein Phänomen der heutigen Zeit sei. Schon die alten Römer haben über diesen Finger geschrieben. "Es wird also nicht alles schlimmer, sondern manche Zeichen werden von Generation zu Generation einfach salopper verwendet“, sagt Stefan Verra.

“Wenn du einen Mund-Nasenschutz tragen musst, eine Sonnenbrille aufhast und die Hände in der Hosentasche, dann wirst du Singel bleiben."

Bleibt noch die bange Frage: Wie funktioniert Flirten in Zeiten körperlicher Distanzgebote? Schwierig, denn die Augen alleine sagen uns nichts über den emotionalen Zustand unseres Gegenübers. Denn der untere Teil des Gesichtes ist enorm wichtig um den emotionalen Zustand des Gegenübers entschlüsseln zu können. Also müssen wir beim tragen von Nasen-Mundschutzmasken, laut Stefan Verra, einfach den Zygomaticus Major, das ist ein Wangenmuskel, der den Mundwinkel hebt, so stark anziehen bis sich um die Augen Fältchen bilden.

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