Graffiti für die kurdische Unabhängigkeit

APA/AFP/AHMAD AL-RUBAYE

Nebenan

Wann bekommen die Kurden endlich einen eigenen Staat? Und wann die Rothaarigen?

Lord Nylon macht sich - wie immer unseriös im Stil, aber todernst in der Reflexion – in seiner heutigen Radiokolumne Gedanken darüber, ob jedes Volk wirklich einen eigenen Staat haben muss und warum gerade “die Kurden” uns lehren könnten, von diesem nicht unproblematischen Ansinnen abzusehen.

Viele Zuhörerinnen und Zuhörer, die eigentlich mehr von ihrem geliebten Lord Nylon wissen wollen, fragen sich, was er so in seiner Freizeit macht, wenn er gerade nicht für Ö1 den dekadenten Stutzer spielt. So viel sei verraten: In seiner Freizeit ist Lord Nylon solidarisch mit den Kurden. Ja, mit den Kurden. Und den Kurdinnen selbstverständlich. Das ist sein Hobby.

Das bringt ihn aber auch in Kontakt mit Kurdenfreunden, die ständig verzweifelt rufen: Es ist ein Skandal, dass die Kurden noch immer keinen Staat haben. Oder: Die Kurden sind durch vier Staaten zerrissen. Ja, fragt er sich, warum haben die Navajo, die Tungusen und die Bretonen eigentlich keinen eigenen Staat? Und wann werden endlich die Tessiner und Graubündener Italiener aus dem Schweizer Zwangsverband befreit und an ihr italienisches Mutterland angeschlossen?
Ich weiß, welches Gegenargument jetzt kommt. Ich werde es sofort nach der nächsten Musikeinlage selbst formulieren.

Weil die Kurden überall unterdrückt werden. Ok, wenn eine als ethnisch definierte Gruppe aufgrund ihrer kollektiven Identität verfolgt wird, dann wird ein eigener Staat als Schutzzone plausibel. Und die Kurden wurden ja immer unterdrückt. Wurden sie das wirklich? Wo Herrschaft ist, ist Unterdrückung. Aber wurden kurdische Menschen unterdrückt oder Menschen als Kurden? Au weia, Frau Meier, höre ich ich es vor dem Volksempfänger raunen, jetzt spricht der weiße Aristokrat den Kurden auch noch ihre Unterdrückungserfahrung ab. Aber ist der gute Ruf einmal ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert. Lord Nylon kann sogar noch eines nachlegen. Er behauptet, dass die Kurden als Volk mit einer gemeinsamen Identität erst im 20. Jahrhunderts erfunden wurden, und der Nationalismus nur so spät bei ihnen ankam, weil sie auf so schnuckelige Weise zurückgeblieben waren. So und bevor jetzt die ersten antirassistischen Killerkommandos das ORF-Studio stürmen, bitte ich noch um ein paar Minuten, um mich dialektisch entweder aus der Schlinge zu ziehen oder mich mit dieser zu strangulieren. Bis dahin beschwichtige ich mit dem Bekenntnis: Ich liebe die Kurden. Sie sind so herrlich in between, nicht mehr ganz ethno und noch nicht Christopher Street Parade. Die Kurden sind jedenfalls die hübscheste Erfindung seit dem Womanizer Liberty. Mist, heute mach ich wieder alles falsch.

So, ein kleiner Schnellkurs. Und so schnell werden Sie es von Lord Nylon nie wieder erklärt bekommen. Das Konzept des Volkes, auf dem die Staatsbürgerschaft gründen soll, ist eine moderne Erfindung. Nicht nur eine moderne Erfindung, sondern eine Erfindung der Moderne. Und zwar von deutschen Antimodernisten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Weil in den alten Königreichen die religiöse Identität vorherrschendes Verblödungsinstrument war, suchten bürgerliche Intellektuelle nach einem neuen, und fanden es in der gemeinsamen Kultur. Dieser Blödsinn beruhte auf der Fehlannahme, dass Leute, die eine gemeinsame Sprache sprechen, auch eine gemeinsame Kultur hätten und ein gemeinsames Haus bräuchten, in dem Minderheiten nur noch als Gäste geduldet werden. Und so wurde die Ideologie in die Welt gesetzt, derzufolge einen Kärntner Bauern, der seit zwei Generationen nicht mehr Slowenisch spricht, mit einem friesischen Pastor, dem Werner Kogler oder einem Frankfurter Immobilienmakler eine tiefe, in mythisch-germanische Urgründe zurückreichende Wesens-und Schicksalsgemeinschaft verbindet, die ihn vom katholischen slowenischen Nachbarbauern trennt wie Brad Pitt von Angelina Jolie.

Zurück zu den Kurden. Ich entschuldige mich für das „zurückgeblieben“. Ich hatte das total lieb gemeint, genauso wie Lord Nylon es entzückend findet, dass er selbst etwas zurückgeblieben ist, noch immer TV-Magazine abonniert oder glaubt, und Freundschaftsanfragen von Mädchen namens Felicity Abdulla annimmt. Aber das heißt nicht viel, weil Lord Nylon so ziemlich alles entzückend findet, was er selbst tut.
Die Leute, die Kurdisch sprachen, hatten jedenfalls unzählige lokale Identitäten, religiöse, ökonomische, sprachliche. In den 20er Jahren wurden per Staatsdekret die Türken erfunden und Nichttürken assimiliert oder verfolgt. Das ist das Blöde am Nationalismus, er schafft sich Gegennationen. Wer als Kurde unterdrückt wird, wird Kurde. Kein Afrikaner hatte eine afrikanische Identität, bevor er sich der rassistischen europäischen Verallgemeinerung beugen musste.

Auch immer mehr Linke glauben wieder, dass die Stammeskultur eine taugliche Basis für Staatlichkeit ist, und dass katalanische oder schottische Unternehmer unter sich bleiben sollen und mehr Anrecht auf Umverteilung unter Gleichsprachigen haben als die der Vereinigten Republik der Rothaarigen.

Wer könnte sie davon heilen? Wer? Na die Kurden können es? Die Kurden. Genau. Denn dass der Prozess der Nationalisierung bei ihnen erst am Anfang stand, war ihre beste Voraussetzung, um diesen Weg der Geschichte gleich gar nicht einzuschlagen. Im Mai 2005 verabschiedete sich die Leitung der PKK von der Idee eines Kurdenstaates und vom Nationalismus überhaupt. Stattdessen stellte sie das Konzept des demokratischen Föderalismus vor. Lord Nylon ist kein PKK-Agent und lauft auch nicht mit Bildern von Öcalan herum, schon allein, weil der nicht so sexy aussieht wie Michael Fassbender oder Selahattin Demirtas. Ich weiß also nicht, ob die Kurden ein Volk sind, ich weiß bloß, dass eine immer größere Anzahl von Kurden Menschen sind, welche die Idee von Basisdemokratie, Feminismus, Ökologie, Sozialismus und Multikulturalität überall umsetzen, wo Kurden leben. Zum Beispiel in Rojava, wo unter kurdischer Regie ein Selbstverwaltungssystem errichtet wurde, an welchem Armenier, Jeziden, Araber und andere eingeladen wurden, gleichberechtigt mitzuarbeiten. Der türkische Faschismus, der vor einem Jahr dieses Projekt mordend angriff, stellt die Menschen von Rojava als kurdische Terroristen hin, viele von Rojavas linken Sympathisanten feiern es als kurdischen Befreiungsnationalismus. Beide, Erdogan und Befreiungsnationalisten sind einander ideologisch näher, als sie es ahnen. Von den Kurden Syriens lernen heißt, nicht nur das Patriarchat, sondern auch die Idee von homogenen Kulturgemeinschaften und daraus abgeleiteter Staatlichkeit zu überwinden.
Her biji Azadi. Her Biji Rojava,

Text: Richard Schuberth

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