Herzen, Plüsch

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Letzte Folge

10-jähriges Verbot für Liebeslieder?

Stellen Sie sich vor, Sie entdecken in der totalen Shopping Mall, die unser Leben ist, eine neue Tür, hinter der Sie einen Maschinenraum vermuten. Sie treten ein in ein kleines Märchenboudoir, wo Lord Nylon alias Richard Schuberth Ihre nie gestellten Fragen beantwortet und Ihre gängigen Antworten in Frage stellt. Ein Ratgeber zur Lösung aller Probleme, die er ihnen schaffen will. Ein gefallener Engel, der die Zeit, bis sein Wiedereinreiseantrag fürs Paradies beschieden wird, damit verbringt, die Schlösser zu Ihren Selbstverständlichkeiten auszuwechseln, damit Sie nie wieder dorthin zurückfinden.
Heute denkt Lord Nylon über Liebeslieder nach.

Lord Nylon begrüßt Sie, werte Zuhörerinnen und Zuhörer, zum allerletzten Mal bei seinem Schlüsseldienst und bedankt sich bei der Diagonal-Redaktion für die nunmehr einjährige Gastfreundschaft. Doch von Gästen erwartet man sich, dass sie irgendwann wieder abhauen, dass sie wie in meinem Fall den rostigen Rollbalken runterlassen und mit ihrem Handwagen weiterziehen.

Darum hat sich Lordchen Nylonchen für die letzte Folge ein versöhnliches Thema gewählt, nämlich das schönste aller Themen, die Himmelsmacht, richtig die Liebe. Und was ist der größte Feind der Liebe? Der Hass? Falsch. Es ist das Liebeslied, auch Love Song genannt.

Lord Nylon tritt für ein zehnjähriges weltweites Verbot von Liebesliedern ein. Was? Wie? Was für grausame und gefühllose Seele kann denn sowas fordern, mögen sich nun die bedauernswerten Seelen fragen, die den Unterschied zwischen Liebe und ihren fließbandmäßig hergestellten Substituten aus den Ein-Euro-Läden des Bewusstseins nicht mehr kennen.

Der Minnesänger Richard Schuberth hatte vor fast einer Generation, bevor er auf Nimmerwiedersehen im Venusberg verschwand, in seinem „Neuen Wörterbuch des Teufels“ folgende aphoristische Definition des Love Songs vorgelegt:
„Polyestergefertigtes Lied, das die schönste Sache der Welt besingt und die Seelen der Menschen erwärmt, am meisten die von Mördern, Vergewaltigern und Investmentbankern, die wirklich Liebender aber erstaunlich kalt lässt.“

Lord Nylon flunkert natürlich, er liebt gute Liebeslieder und Liebesgedichte, und sogar dem nostalgischen Charme alter Schlager kann er sich nicht verwehren. Aber da die ganze Welt auf den unhinterfragten Konsens eingeschworen zu sein scheint, dass Liebeslieder unschuldig und nicht kritikwürdig seien, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als diese Massenware, die sich und ihre Sänger und Konsumenten als individuellen Ausdruck missverstehen, in den Dreck zu ziehen, der sie ist. Und daran zu appellieren, zumindest den echten Sonnenuntergang anzuwinseln, und nicht das Ölbild davon, das im Wohnzimmer hängt. Sobald er diese Aufgabe erfüllt hat, zieht er sich in sein Boudoir zurück und hört sich heimlich stundenlang hintereinander nur dieses eine, sein Lieblingslied an: Dominique.

Beruhigenderweise steht Lord Nylon nicht allein da mit dieser Ansicht, und holt sich Schützenhilfe von einem seiner Schutzpatrone – nein, nicht Adorno, sondern Frank Zappa. Der meinte: „Ich hasse Liebeslyrik. Und ich glaube, einer der Gründe für die schlechte psychische Gesundheit in den Vereinigten Staaten liegt darin, dass die Leute mit Liebesliedern aufgezogen wurden.

Deine Eltern erzählen dir nicht die Wahrheit über Liebe, und du lernst sie auch nicht in der Schule. Den Großteil deiner Verhaltensregeln kriegst du direkt auf dich zugeschnitten von ein paar dummen beschissenen Love Songs. Eine unbewusste Manipulation ist das, dass dir die Sehnsucht nach einer imaginären Situation einpflanzt, die du nie erleben wirst. Menschen, die auf diese Mythologie hereinfallen, gehen mit dem Gefühl durch ihr Leben, um etwas betrogen worden zu sein.“

Das ist schon mal ganz gut, und Frank Zappa hört dort auf, wo Lord Nylons Domina Theodor Adorno weitermacht, der sehr viel zum Thema zu sagen hatte. Adorno: „Schlager beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal sagt, sie müssten sie haben.“

Aber, das Liebeslied ist doch so alt wie die Liebe selbst und aus dem Brunftschrei des Neandertalers entstanden, mögen nun die einwenden, für die immer eh schon alles gleich war; Kulturindustrie hin, kapitalistische Ausbeutung her, die schönste Sache der Welt und das Bedürfnis, sie zu besingen, triumphiert über jede Ideologie. Das zeigen schon die vielen Volkslieder, die genau vom Gleichen handeln.

Welche Volkslieder, fragt Lord Nylon, die welche, die Volksliedforscher gefiltert und beschönigt haben? In seiner Jugend, im 18. Jahrhundert, hatte das Volk ein weitaus realistischeres Verhältnis zu dem Gefühl, das später als Liebe verkitscht wurde, wo jedes zweite so anfing: Come all ye young maidens, take warnings from me. Es sind Lieder der Grausamkeit und des Verhängnisses, des Hasses, der unerfüllten Liebe und der fürchterlichen Schicksale der millionenfach geschwängerten, verlassenen, verstoßenen weiblichen Unschuld, der tausendfach erhängten Mädchen, weggelegten und ermordeten Babys.

Selten werden die Lügen der Love Songs besser entlarvt als in dem Traditional Silver Dagger aus den Appalachian Mountains, in dessen zweiter Strophe es heißt:

All men are false, says my mother,
They'll tell you wicked, lovin' lies.
The very next evening, they'll court another,
Leave you alone to pine and sigh.

Und auch die folgenden Strophen will ich Ihnen nicht vorenthalten.

My daddy is a handsome devil
He's got a chain five miles long,
And on every link a heart does dangle
Of another maid he's loved and wronged.

Go court another tender maiden,
And hope that she will be your wife,
For I've been warned, and I've decided
To sleep alone all of my life.

Und dann kam die Kulturindustrie und nicht nur die Zeit der industriell vorgestanzten Gefühlsprothesen, der stumpfsinnigen Positivität von I wanna hold your hand und dem stereotypen I dont know how I feel, zu dem wie Aufziehündchen auch die Intellektuellenköpfe in schwarzen Rollis wackelten, sobald nur ein paar Blue Notes dazu gesungen wurden, sondern auch der singenden Münzautomaten mit Gitarre, die nicht nur die Lüge von der Liebe als Plastiksubstitut fürs gestohlene Leben reproduzieren, sondern gleich auch den Gender-Unterschied verschwinden lassen, der hinter dieser – Love – sich versteckt, der Unterschied zweier völlig unterschiedlicher Narzissmusbefriedigungen: nämlich sich als Obermacker zu fühlen, wenn man die Begehrte zu my baby gemacht hat, und auf weiblicher Seite der Wunsch, durch das Begehren des begehrten Obermackers die eigene gesellschaftliche Ohnmacht aufzuwiegen, und sobald man wieder als sein Baby abgetrieben wurde, diesen Selbstbetrug in Form von Jammern zu drei Akkorden bis ans Ende aller Zeiten zu wiederholen.

Und so plädiert Lord Nylon für eine kulturelle Brachwirtschaft, für ein 10-jähriges Verbot von Liebesliedern, damit die Gefühle, die da mit verdächtiger Ferngesteuertheit besungen werden, wieder unbehindert nachwachsen können. Und die Liebenden und Denkenden und Sich-nicht-mehr-verarschen-Lassenden werden vielleicht selber Dichter und Denkerinnen werden, und der Gefühlspornografie nicht mehr bedürfen, so wie sie auch sich und allem, was wahr ist, keinen Barcode mehr eintättowieren lassen, und die Ware wird nicht der Maßstab für das eigene Sein sein, und die Liebenden werden nicht mehr zu ihren Geliebten sagen: Du schaust aus wie Ryan Gosling oder Kate Winslett, sondern es wird eine Ehre für die Abziehbilder Ryan Gosling und Kate Winslett sein, dass sie so ausschauen dürfen wie du, und Liebe und ihr künstlerischer Ausdruck werden ein anarchisches Projekt werden, das die Welt aus den Angeln hebt, und dann wird man bei den Emotionen wieder von vorne anfangen und sich zart vortastend in Liebeslyrik üben und so einfache, unmittelbare Songs oder Gedichte schreiben wie das von Bertolt Brecht, mit dem sich Lord Nylon von euch verabschiedet:

„Der, den ich liebe, hat mir gesagt, dass er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht, sehe auf meinen Weg und fürchte von jedem Regentropfen, dass er mich erschlagen könnte.“

Und so bleibt Lord Nylon nichts als euch zu wünschen: Kauft keinen Christbaum, sondern öffnet die Herzen – und herzet die Öffnungen.

Text: Richard Schuberth

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