Archivaufnahme vom 29. April 1945 zeigt den damaligen Staatskanzler Karl Renner nach der Konstituierung der provisorischen Staatsregierung

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Radiokolleg

Karl Renner - Staatsmann, Schlitzohr, Sozialist

Er stand an der Wiege der Ersten und der Zweiten Republik - und an der Bahre der Ersten. Kaum ein Politiker hat die Geschicke Österreichs in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhundert so entscheidend mitgestaltet wie Karl Renner - ein Mann, in dessen Charakter sich glanzvolle, wie auch problematische Seiten mischten.

Nach 1945 hat man Karl Renner, der zeitlebens ein Proponent des rechten, pragmatischen Flügels der österreichischen Sozialdemokratie war, zu einer Art Staatsmythos erhoben. Sein Andenken hat in letzter Zeit allerdings einigen Schaden genommen.

Man wirft Renner die Wendigkeit vor, mit der er zeitlebens auf politische Herausforderungen reagiert hat, vor allem sieht man sein „Ja“ zum Anschluss 1938 kritisch, ebenso wie seine taktische Anbiederung an Stalin 1945 – und die mangelnde Sensibilität, mit der er auf die Schrecken der Shoa reagiert hat.

„Das Schicksal meines Vaterhauses und die harten Erfahrungen meiner Kindheit hatten mich zum Gefühlssozialisten gemacht.“

Der zweimalige Kanzler, 1870 im südmährischen Unter Tannowitz (heute: Dolní Dunajovice) als jüngstes von achtzehn Kindern geboren, ist in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen. Nach der Zwangsversteigerung des elterlichen Bauernhofs - ein lebenslanges Trauma -, kämpfte sich der junge Deutschmähre mit Bildungsfleiß und ungeheurer Zähigkeit aus Armut und Entbehrung heraus. Mithilfe eines Stipendiums besuchte Renner das Gymnasium von Nikolsburg (heute: Mikulov), wo er den Professoren durch seine Intelligenz und seine Begabung für lateinische Grammatik auffiel.

Während des Jusstudiums in Wien näherte sich der junge Mann - anders als die Mehrzahl seiner Kommilitonen, die deutschnational oder katholisch-konservativ eingestellt waren - der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" an.

„Bei der Maifeier 1893, einer besonders machtvollen Demonstration, marschierten wir bereits in Viererreihen mit und waren ein ganz ansehnliches Häuflein.“

1895 war Karl Renner maßgeblich an der Gründung der internationalen "Naturfreunde"-Bewegung beteiligt. Der künstlerisch und literarisch interessierte Jurist, der sich zeitlebens als Marxist verstand, positionierte sich von Anfang an auf dem reformistisch-pragmatischen Flügel seiner Partei. "Er war überzeugt davon, dass Kompromiss und die Suche nach Ausgleich keine Fehlentwicklungen sind, sondern unvermeidlicher Bestandteil des demokratischen Lebens", so sein Biograph Siegfried Nasko.

Karl Renner hat sich außergewöhnliche Verdienste um die Demokratisierung Österreichs erworben. Als Gründungskanzler der Ersten Republik war er maßgeblich an der Verabschiedung bahnbrechender Reformgesetze beteiligt. Er verantwortete die Einführung des Frauenwahlrechts und des Achtstundentags, die Gründung der "Arbeiterkammern", die Etablierung eines Betriebsrätegesetzes und die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Karl Renner war es auch, der Hans Kelsen mit der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung beauftragte.

„Karl Renner war deutschnational und zugleich österreichisch-patriotisch. Er war gegen und für den Anschluss an Hitler-Deutschland.“ Anton Pelinka, Politikwissenschaftler

Seine Kritiker werfen Renner bis heute seinen Opportunismus und seine bauernschlaue Wendigkeit vor. Renner hat den Ruf eines Wendehalses, der seine Ideale den taktischen Erfordernissen anzupassen wusste: Der Kanzler, ein rechter Sozialdemokrat, hat verstanden, sich mit dem linken Flügel seiner Partei ebenso zu arrangieren, wie mit führenden Politikern der christlich-sozialen Partei, den Großdeutschen, den Nationalsozialisten und zuletzt den Stalinisten. Auch Renners Deutschnationalismus und sein berühmt-berüchtigter Aufruf von 1938 für den "Anschluss" an Hitler-Deutschland zu stimmen, trüben das Renner-Bild bis heute.

Als die Nazis 1938 in Österreich einmarschieren und die berüchtigte „Anschluss“-Volksabstimmung unmittelbar bevorsteht, meldet sich Karl Renner mit einem Interview im „Neuen Wiener Tagblatt“ zu Wort. Er lehne die Methoden, mit denen der Anschluss vollzogen wurde, ab, erklärte der frühere Kanzler, aber der Anschluss sei nunmehr vollzogen. Als Sozialdemokrat und Verfechter des Selbstbestimmungsrechts der Nationen werde er mit „Ja“ stimmen.

Karl Renner

ÖNB

Karl Renner, 1949

Die letzten Beweggründe bleiben im Dunkeln

Warum er das tat, darüber sind sich die Historiker uneinig. Die Historikerin Verena Moritz meint: „Man muss natürlich auch nach den Hintergründen fragen, da gibt es ja viele Erklärungen. Eine davon ist, dass die Gegnerschaft Karl Renners zum Austrofaschismus größer gewesen ist als die zum NS. Eine andere ist die, dass er versucht hat, mit diesem Aufruf die österreichische Arbeiterschaft vor überstürzten Reaktionen zu bewahren. Eine andere ist die, und die scheint mir nachvollziehbar, dass hier schon konkrete Drohungen im Hintergrund waren... was mit seiner Familie passieren würde... Er kannte ja schon die Folgen für die SPD. Natürlich kann man auch sagen, dass er naiv gewesen ist.“

Dennoch: Sein öffentliches „Ja“ zum Anschluss an Hitlerdeutschland war ein unverzeihlicher Fehler, meint der Renner-Experte Michael Rosecker, doch: „Die letzten Beweggründe bleiben trotzdem im Dunkeln.“

„Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“

Ein weiterer dunkler Punkt in Karl Renners politischem Wirken, ist der Umgang der Zweiten Republik mit den Opfern des Holocaust. Wenn es um die Rückholung überlebender Jüdinnen und Juden nach Österreich ging, oder um Entschädigungen für Arisierungen in der Nazizeit, reagierten führende Politiker der Republik, auch Karl Renner, mit Kleinreden, Schikanierung, Ausgrenzung.

Gestaltung: Günter Kaindlstorfer

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