RSO-Probenfotos

ORF/ANNA JAGENBREIN

On Stage

Blood on the Floor - Orchesterkomposition und Jazzimprovisation

Das RSO Wien und Marin Alsop mit Mark-Anthony Turnages Fusion-Meisterwerk.

Ein leerer Raum, die Wände in kräftigem Orange getüncht. Keine Fenster, nur eine einsame Funzel hängt von der Decke. Keine Spur von Leben, wäre da nicht ein Blutfleck auf hellen Dielen, kräftig verspritzt nach allen Seiten. Blood on the Floor, 1986 gemalt von Francis Bacon, dem Chronisten schreiender alter weißer Männer.

Keine zehn Jahre später war aus dem Gemälde Musik geworden, eine jener Kompositionen, die das Zeug dazu haben, die Musikgeschichte vom Kurs abzubringen. Mitte der 1990er Jahre passierte dies in schöner Regelmäßigkeit. Die Postmoderne der 1980er Jahre hatte eine Reihe von -ismen in Rente geschickt und die meisten "Verbote" aus dem Weg geräumt.

"Wahrscheinlich wollte ich mich damals vom Royal College absetzen."

Eine Handvoll britischer Künstler/innen wagte sich mit einer Musik hervor, die frisch und sinnlich war und die nicht vergessen ließ, dass ihre Protagonist/innen bei aller profunden klassischen Ausbildung jede Menge Pop, Rock und Jazz kannten und liebten.

Mark-Anthony Turnage, Jahrgang 1960, gehörte dazu. Als Jungstudent spielte er Keyboards in einer Funkband, "mit einem Finger und leicht mürrischem Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich wollte ich mich damals vom Royal College absetzen, aber vor allem versuchte ich, mich breiter aufzustellen als die meisten meiner Kollegen, während ich gleichzeitig an den seriösen Kompositionstechniken festhielt."

Turnage kann ausgiebig über James Brown fachsimpeln, er verehrt Miles Davis, und er nahm Unterricht nicht nur bei Hans Werner Henze, sondern auch bei Gunther Schuller, jenem amerikanischen Komponisten, der den Jazz in die zeitgenössische Musik eingeladen hatte. "Third Stream" nannte man das, aber Turnage ging einen Schritt weiter. Seine Musik versucht nicht, divergierende Ströme zu vereinen; er schreibt vielmehr eine neue Musik, die sich zu gleichen Teilen von Avantgarde und vom Jazz ernährt. Das Manifest dieser Fusion ist Blood on the Floor, in dem ein Orchester und eine Combo aufeinandertreffen.

Melodik, Puls, Improvisation, Wildheit, Lyrik

Blood on the Floor entstand 1993 im Auftrag des Ensemble Modern. Die Frankfurter Musiker waren nach der Uraufführung (unter Ingo Metzmacher) derart begeistert, dass sie den Komponisten baten, das Werk abendfüllend auszubauen. Erst in dieser neunsätzigen Version integrierte der Komponist ein Jazzquartett, angeführt von Gitarrenlegende John Scofield und dem Weather-Report-Drummer Peter Erskine.

Melodik, Puls, Improvisation, Wildheit, Lyrik, raue und elegante Oberflächen - all dies findet sich in Blood on the Floor, schweißtreibende und berührende Soli inklusive, nicht nur von den Jazzern, sondern auch aus dem Orchester heraus. So spektakulär ist die Originalität der Tonsprache Turnages, dass man fast über den ernsten Hintergrund der Musik hinweghören könnte. Turnages Themen sind die Abgründe der urbanen Gesellschaft und ihre Folgen: Einsamkeit und Drogenkonsum.

Elegy for Andy

Während der Komponist an seiner Partitur saß, erfuhr er vom Tod seines Bruders Andy, der seit vielen Jahren drogenabhängig gewesen war. Mit Elegy for Andy, dem sechsten Satz, setzte Turnage ihm ein Denkmal. "Er starb, bevor ich selbst Kinder bekam. Heute betrachte ich seinen Tod als Vater, und ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, wie das ist, sein Kind zu verlieren."

Scofield und Erskine sind Helden des Jazzrock. Ein Vierteljahrhundert später ist Zeit für einen Generationenwechsel: Für die von Chefdirigentin Marin Alsop geleitete Aufführung am 12. Dezember im Wiener Konzerthaus hat das RSO Wien den weltweit gefeierten österreichischen Gitarristen Wolfgang Muthspiel gebeten, sich ein Quartett zusammenzustellen.

Gestaltung: Christoph Becher, Intendant des RSO Wien