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Projekt Cybersyn
Chiles kybernetischer Traum von Gerechtigkeit. Ein Experiment in den 1970er, in dem Sozialismus auf Science-Fiction trifft: 20 Jahre vor dem World Wide Web.
25. Jänner 2021, 02:00
Das Jahr 1970 ist eine Zäsur für Chile. Mit dem Sozialisten Salvador Allende wird ein Mann zum Präsidenten gewählt, der die extreme soziale Ungleichheit im Land beseitigen will. Damit die massive Umverteilung keine starke Inflation auslöst, soll zugleich die Wirtschaft angekurbelt werden.
"Wenn ihr heute Nacht eure Kinder zu Bett bringt und euch selbst zur Ruhe legt, dann denkt daran, das Morgen harte Arbeit vor uns liegt. Und das wir all unsere Leidenschaft, all unsere Liebe brauchen werden, um das Leben in Chile gerechter zu machen". Auszug aus der Rede von Salvador Allende zu seinem Wahlsieg 1970.
AP
„Alle dachten an Revolution. Ich machte mir Sorgen ums Management."
Wenige Monate nach Allendes Amtsantritt befindet sich ein großer Teil der chilenischen Wirtschaft in staatlicher Hand. Doch es gibt keinen konkreten Plan, wie die komplexe staatliche Industrie effektiv gelenkt werden kann. Der Leiter der Wirtschaftsentwicklungsbehörde CORFO, der gerade einmal 27-jährige Fernando Flores, fürchtet, die Wirtschaft könnte im Chaos versinken. „Alle dachten an Revolution. Ich machte mir Sorgen ums Management“, erinnert sich Flores heute. Den einzigen Ausweg sieht er im Ansatz des britischen Unternehmensberaters Stafford Beer.
JANNIS FUNK/JAKOB SCHMIDT
Stafford Beer
Beer ist der Erfinder der Management-Kybernetik. Kybernetik, die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Systemen, erklärt, wie eine Maschine oder ein Lebewesen beschaffen sein muss, um sich selbst im Gleichgewicht halten zu können. Beer hat kybernetische Ideen auf Abläufe in Unternehmen übertragen und damit ein Vermögen verdient.
Eine sich selbst regulierenden Wirtschaft
Flores ist überzeugt: Mit Kybernetik lässt sich die chilenische Wirtschaft in den Griff bekommen. Er reist nach London, um Stafford Beer zu engagieren. „Es war ein Griff nach den Sternen“, sagt er heute. Doch Stafford Beer reizt die Herausforderung. Er sieht im Angebot des ehrgeizigen Sozialisten die Chance, seine Ideen einer sich selbst regulierenden Wirtschaft in die Tat umzusetzen: der Beginn vom Projekt Cybersyn. Die verstaatlichen Fabriken und Unternehmen sollen sich selbst steuern wie Zellen und Organe eines Lebewesens. Lagerstände, Absatzzahlen und Produktionsmengen im ganzen Land sollen in Echtzeit erfasst werden; mit Algorithmen soll errechnet werden, wo Knappheiten drohen und wie Ressourcen am effektivsten verteilt werden können.
"Was, wenn jede Familie zu Hause einen Schalter hätte, mit dem sie signalisieren könnte, wie gut es ihr geht?"
Das Team aus jungen Ingenieuren und Designern um Flores steht vor einem Berg von Herausforderungen: Geld ist kaum vorhanden. Im ganzen Land gibt es nur eine Handvoll Computer. Doch den Mangel an Ressourcen gleichen sie mit Kreativität aus: Sie verbinden Fabriken in ganz Chile mit einfachen Fernschreibern, Analyse-Software schreiben sie selbst.
Das Cybersyn-Team beginnt seine Arbeit.
In der Hauptstadt errichtet das Cybersyn-Team einen Operations Room, der aussieht wie aus einem Stanley-Kubrick-Film. Hier sollen Entscheidungen getroffen werden. Diagramme an den Wänden zeigen die wichtigsten Daten. Hinter der futuristischen Fassade stehen dabei einfache Diaprojektoren, die animierten Grafiken werden vom Motor eines Modellflugzeugs bewegt. Aus dem britischen Geschäftsmann Beer wird während der Zeit in Chile ein überzeugter Sozialist. Er denkt Cybersyn drei Schritte weiter: Was, wenn jede Familie zu Hause einen Schalter hätte, mit dem sie signalisieren könnte, wie gut es ihr geht?
JANNIS FUNK/JAKOB SCHMIDT
Das Ende des Experiments
Doch dazu kommt es nicht mehr. Die USA wollen einen sozialistischen Erfolg nicht dulden, erschweren Chile den Außenhandel, schneiden die Wirtschaft von wichtigen Ersatzteilen ab. Die rechten Kräfte im Land verschärfen die Wirtschaftskrise und planen offen den Putsch.
Am 11. September 1973 bombardieren General Pinochet und seine Verbündeten den Präsidentenpalast in Santiago. Sie stürzen Allende, beenden das Experiment des demokratischen Sozialismus mit Gewalt. Projekt Cybersyn wird zerstört. Für Chile beginnen 17 Jahre Diktatur.
Ein halbes Jahrhundert später haben einige der Ideen hinter Cybersyn wieder Hochkonjunktur: „Predictive Analytics“ helfen, Bedarf vorherzusagen und ohne Verschwendung das zu produzieren, was später gebraucht wird. Unternehmen verdienen so Milliarden. Doch mit der Idee, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, haben die Ansätze heute nichts mehr zu tun.
Text: Jakob Schmidt, Regisseur für Filme über alternative Gesellschaftsmodelle; Jannis Funk, Drehbuchautor, recherchiert seit fünf Jahren für einen Kinofilm zu Cybersyn.