Eine Zeichnung des Struwwelpeters.

APA/GERMANISCHES NATIONALMUSEUM NÜRN/FRANK ALTMANN/HEINRICH HOFFMANN

Tonspuren

Die 175-jährige Erfolgsgeschichte des Struwwelpeter

Eine Weihnachtsgeschichte. Sie spielt in Frankfurt, im späten Biedermeier. Im Dezember 1844 durchstöbert der Arzt Heinrich Hoffmann die Buchläden nach einem passenden Bilderbuch für seinen dreijährigen Sohn Carl. Bunt und lustig soll es sein, dem Kleinen Freude machen.

"Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie ‚Das brave Kind muss wahrhaft sein‘ oder ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘."

Nichts für einen Dreijährigen! Also malt und reimt er das Weihnachtsgeschenk für den Jungen selbst. Sechs Mini-Dramen über widerspenstige Kinder und einen schlauen Hasen, die Zeichnungen im karikaturistischen Stil, erzählt in knappen Versen. Die Verwandten und Freunde sind entzückt: "Das musst du drucken lassen!"

1845 erscheint das Werk im Verlag des befreundeten Buchhändlers Zacharias Löwenthal unter dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ zum Preis von 48 Kreuzern. Hoffmann wollte ihn "billig" anbieten, seinen Vorläufer des Comics, der auch etwas ganz Neues in der Kinderliteratur des Biedermeier war.

Das erste erzählende Kinderbuch für Drei- bis Sechsjährige

Zum ersten Mal werden Bild und Text miteinander verknüpft. Das Buch ist das erste erzählende Kinderbuch, bestimmt für Drei- bis Sechsjährige. Zu dieser Zeit gibt es noch keine Literatur für Kleinkinder. Der Struwwelpeter taucht darin erst auf der letzten Seite auf und ist noch ein zartes, zerzaustes Kind mit roten Haaren.

Es folgt eine Bilderbuchkarriere: eine Auflage nach der anderen, Übersetzungen in ganz Europa und Amerika und 1859 eine neue Fassung - die Version, die zum Klassiker wurde. 1896, zwei Jahre nach Hoffmanns Tod, ist die 200. Auflage erreicht.

Zweite Fassung, komplett neu gezeichnet

Das dünne Büchlein hat eine Flut von Nachdichtungen, politischen Parodien, Aktualisierungen und Bühnenadaptionen hervorgebracht, ist von allen Seiten erforscht und interpretiert worden. Gibt es da überhaupt noch Neues zu erzählen? Es gibt.

Wer zum Beispiel weiß schon, dass Hoffmann jene zweite Fassung von 1859, die wir alle kennen, komplett neu zeichnete? Und dass er sich dabei von den kunstvollen Illustrationen der russischen Übersetzung Stepka-rastrepka von 1849 inspirieren ließ? Das graziöse, elegant herausgeputzte Paulinchen beispielsweise - zuvor eher eine schlichte Gretel mit Schürze - ist von den vielen Schleifen bis zu den Posen ein genaues Abbild der russischen Katja. Zwei Ausgaben später ist aus dem Struwwelpeter-Kind auch der stämmige Kerl mit dem Afro geworden, wie wir ihn alle kennen.

Mark Twains Übersetzung: „Slovenly Peter“

Oder die Geschichte mit Mark Twain: Im Herbst 1891, als er mit seiner Familie fünf Monate in Berlin lebte, übersetzte er den „Struwwelpeter“. Originell, frei, mit bizarrem Witz. Das Manuskript legte er dann seinen drei Töchtern unter den Weihnachtsbaum. Zuvor hatte er sich allerdings mit der Veröffentlichung seines Werks Riesengewinne in Amerika erhofft, die Erlösung von seinen Schulden.

Das Projekt scheiterte. Erst 1935 brachte seine Tochter Clara den „Slovenly Peter“ in New York heraus.

Unterschiedliche Betrachtungen

In den 1970er Jahren noch als Inbegriff der "Schwarzen Pädagogik" verdammt, betrachtet man die drastischen Geschichten und grotesken Übertreibungen im „Struwwelpeter“ inzwischen mit mehr Gelassenheit.

Die Kinder, sagt die Leiterin des Struwwelpeter-Museums in Frankfurt, lieben die Urgewalt der Geschichten, die Lust am Schrecklichen, den wohligen Schauder. Das Lieblingsspiel der Kleinen in der Theaterecke des Museums: "Die Geschichte vom Daumenlutscher".

Gestaltung: Renate Maurer

Service

Struwwelpeter Museum