Frau vor Lichtspielen

ELLIOT WOOD, MIMI SON

Matrix

Matrix-Jahresrückblick 2020

Das Jahr zwischen automatischer Emotionserkennung und Turbodigitalisierung.

Ein Virus hat 2020 auch die Digitalszene in Atem gehalten: Versuchten die einen, Ansteckungen und Risiken mittels automatischer Kontaktverfolgung zu minimieren, mussten andere schnell auf Online-Technologien aufspringen, um ihre Schüler/innen mit Aufgaben und Lernstoff oder ihre Kunden per Paket mit Lebensmitteln zu versorgen. Während Falschinformationen im Zuge der Coronakrise im Netz eine neue Dimension erreichten.

Aber auch abseits von Covid drehte sich die digitale Welt weiter: Der Westen wird sich immer mehr seiner Abhängigkeit von China bewusst, wie etwa der Streit um die App Tiktok zeigt, und die umstrittene automatische Erkennung von Gesichtern und Emotionen bestimmt in manchen Unternehmen schon, wer überhaupt noch einen Job bekommt.

Eine Frau hält ein Kabelbündel aus Glasfaserkabeln vor einer sogenannten Speedpipe (Leerrohr) für ein Glasfasernetzwerk.

DPA/JAN WOITAS

Digitalbooster Corona

Dieses Jahr hat vielen einen Digitalisierungsschub verliehen. Vor allem in ländlichen Regionen hat sich gezeigt, wie wichtig eine gute Anbindung ist, für die Industrie wie für den Handel. „Während des sogenannten Lockdowns haben auch wir fünf Wochen quasi kein Auto verkaufen können, weil auch die Zulassungsstellen nicht angemeldet haben. Aber bei uns ist der Rückgang wesentlich schwächer als in Restösterreich. Wir werden wahrscheinlich mit 20 Prozent Rückgang durchkommen“, sagt Herbert Hörmann. Er betreibt, gemeinsam mit Frau und Sohn ein Autohaus in der niederösterreichischen Ortschaft Heidenreichstein. Wie er selbst meint, „nicht in der günstigsten Wirtschaftszone“.

Um diesen Wettbewerbsnachteil auszugleichen und Fernwartungen und Software-Updates an Autos vornehmen zu können, ist schnelles Internet für Hörmann zu einer Überlebensfrage geworden. Mit Weitblick hat er sich bereits 2016 dafür engagiert, dass sich mindestens 40 Porzent der Haushalte in Heidenreichstein für einen Glasfaser-Anschluss entscheiden. Nun hat sich die Investition in das schnelle Netz mehr als bezahlt gemacht.

Mädchen lernt am Küchentisch mit Laptop

APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Schule der Zukunft

Die Pandemie hat heuer auch die Schulen stark verändert. Aus dem Präsenzunterricht wurde Homeschooling, mit einem sehr holprigen Start. Die Zwangs-Digitalisierung führt zumindest bei einigen dazu, das Bildungssystem generell zu überdenken. So hat etwa die OECD eine Reihe von Szenarien entworfen, wie der Unterricht in Zukunft aussehen könnte.

Immerhin 50 Prozent der OECD-Staaten sehen hybrides Lernen als die Zukunft, also die Vermischung von Präsenz- und Teleunterricht. Andreas Schleicher, der OECD-Bildungsdirektor, erwartet sich unter anderem eine stärkere Verankerung von Künstlicher Intelligenz im Unterricht. „Sie können heute am Computer Mathematik lernen, und während Sie lernen, gibt Ihnen der Computer Rückmeldung, wo Ihre Stärken liegen“, so Schleicher. „Digitale Instrumente können das Lernen viel stärker individualisieren als wir das im Klassenverband machen können.“

Learning Analytics entwickelt sich derzeit vor allem im asiatischen Bereich rasant. Dabei geben Programme quasi ständig Auskunft über den Fortschritt der Schülerinnen und Schüler. Schleicher glaubt aber nicht an ein Ende der Schule, wie wir sie kennen, sondern an eine neue Schule, die zum "Bildungshub" wird und viel stärker mit der Gesellschaft interagiert als jetzt. „Heute sind Schulen sehr gut darin, die Schüler drin zu halten, und den Rest der Welt draußen“.

Damit Schulen zum Bildungshub werden können, brauchen sie aber viel mehr Autonomie als heute in Österreich möglich. Dass sich dies für die Kinder bewährt, zeigen internationale Beispiele. Andererseits, so Schleicher, „ist es schwer, Bildungssystem zu verändern“.

Youtube-Screens

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Welche Regulation brauchen Social Media?

Das Thema Falschinformationen im Netz hat im Zuge der Coronakrise eine neue Dimension erreicht. Und hier stehen Social Media –allen voran die Videoplattform Youtube - seit langem in der Kritik: Die Algorithmen fördern polarisierende Inhalte: Hassprediger und Verschwörungstheoretiker bekommen dadurch übermäßige Aufmerksamkeit, sagen die einen. Youtube übe Zensur und die Richtlinien zur Werbefreundlichkeit erlauben nur weichgespülte Wohlfühl-Inhalte, kritisieren die anderen. Beide haben Recht.

Denn das Geschäftsmodell von YouTube bevorzugt schrille Extremisten im freien Gratis-Bereich. Mit solchen Inhalten könne man Menschen besonders lange online halten, erklärt der Social Media Experte David Garcia von der TU Graz. Anders schaut es aus, sobald Videoblogger mit ihrem YouTube-Kanal Geld verdienen möchten. Wer an den Werbeeinnahmen beteiligt werden will, muss auch "werbefreundliche" Inhalte produzieren. Welche Marke möchte schon mit Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht werden?

Susanne Kopf von der WU Wien hat untersucht, inwiefern die YouTube-Richtlinien zur Werbefreundlichkeit kritische Diskurse überhaupt zulassen. Das Problem: die Regeln sind vage formuliert. Zu den verbotenen Dingen gehören – neben Schimpfwörtern und Erotik – auch unangenehme Ereignisse, etwa Terroranschläge oder eine Pandemie. Was übrig bleibt, seien "Kätzchen, Welpen und Kosmetik", so Kopf.

Doch gerade in Bezug auf Covid-19 hat YouTube mittlerweile einiges geändert: Influencer dürfen vorsichtig über die Pandemie sprechen und einige Accounts von einschlägigen Corona-Leugnern wurden gesperrt. Wobei wir wieder bei einem heiklen Thema wären: Wer soll eigentlich bestimmen dürfen, was gesagt werden darf?

Warum China und die USA über TikTok streiten

Die Teenie-App TikTok ist die erste weltweit erfolgreiche Video-App, die nicht aus dem Silicon Valley kommt, sondern aus China. Facebook, Snapchat und Instagram fürchten sie deshalb als große Konkurrenz. TikTok ist aber mehr als eine beliebte Videoplattform: sie ist auch ein geopolitischer Spielball zwischen den USA und China.

TikTok wirkt auf den ersten Blick wie eine typische, laute und nervige Spaß- und Tanz-App. Das täuscht, meint die Berliner Tech-Journalistin Chris Köver. Für sie ist TikTok weitaus politischer als sein Eigentümer Bytedance jemals zugegeben hat. „Es gab vor allem eine große Diskussion um die Proteste in Hongkong, die auf TikTok so gut wie gar nicht stattgefunden haben. Es kam dann sehr schnell zu Vermutungen, dass TikTok die Inhalte bewusst zensiert“, so Köver.

Die mächtige Plattform war auch Donald Trump ein Dorn im Auge. Trump behauptete im Sommer, die chinesische App sei ein Sicherheitsrisiko, weil sie Nutzerinnen und Nutzer in den USA ausspioniere. Er wollte TikTok in den USA untersagen und einen Verkauf erzwingen, bislang mit wenig Erfolg.

Hier stehen sich zwei konträre Systeme gegenüber, sagt Thomas Gegenhuber, Forscher an der JKU Linz und Juniorprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg. Die staatliche Internetzensur in China und das liberale amerikanische Silicon Valley, der wichtigste Tech-Standort der Welt. Wie dieser techno-politische Konflikt weitergeht, könnte für die Zukunft des Internets wegweisend sein: Der Ausgang entscheidet darüber, wie wir uns künftig im Netz in unterschiedlichen Ländern austauschen können und wer das Rennen um neue Technologien gewinnt.

Automatische Gesichtserkennung

Seit 2020 gehört die Maske zu unserer Standardausrüstung. Dass sie für Gesichtserkennungssoftware kein Problem ist, hat im Frühling schon eine chinesische Techfirma verkündet. Ihre Systeme erkennen auch verhüllte Gesichter.

Automatische Gesichtserkennung ist keine neue Technologie, aber sie hat sich in den vergangenen Jahren auf leisen Sohlen ausgebreitet. In China, in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern durchforsten smarte Kameras den öffentlichen Raum nach verdächtigen Gesichtern. Seit wir mit Blick auf den Bildschirm unser Smartphone entsperren, ist sie auch gesellschaftsfähig geworden. Vor allem in den USA, aber auch in Europa hat die automatische Gesichtserkennung jedoch viele Kritiker/innen auf den Plan gerufen, etwa Paolo Cirio. Der Aktivist und Künstler kommt aus Italien, und seit 10 Jahren widmen sich seine Arbeiten den Themen Privatsphäre, Überwachung und Gesichtserkennung.

Vergangenen Herbst verbringt er mehrere Wochen in Frankreich und wundert sich, wie weit Gesichtserkennung dort verbreitet ist. „Smarte Kameras waren an vielen Bahnhöfen und Metro Stationen installiert. Macrons Regierung will außerdem dieses Programm einführen, mit dem jeder Staatsbürger digital erfasst wird“, so Cirio. Alicem heißt das Programm, mit dem Franzosen eine digitale Identität bekommen sollen, gekoppelt an ihre Gesichtsdaten. Frankreich ist das erste EU-Land, das in so großem Stil die Gesichter seiner Bürgerinnen und Bürger erfassen will.