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Biografie
"Dürrenmatt" von Ulrich Weber
Zum 100. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers hat Ulrich Weber eine Biografie verfasst. Darin zeichnet er das perspektivenreichste Panorama von Dürrenmatts Leben und Werk, das man sich wünschen kann.
10. Februar 2021, 12:00
Die Schriftsteller-Biografie ist ein schwieriges Genre: Allzu leicht wird sie zum Verschubbahnhof großer Materialmengen, gelegentlich verkommt sie zur Homestory und schildert das Privatleben des oder der Porträtierten aus der Schlüsselloch-Perspektive, und oft kippt sie in eine biografistische Interpretation des Werkes. Liest man die Einleitung der neuen Dürrenmatt-Biografie von Ulrich Weber, so traut man ihrem Autor sofort zu, dass er diese Gefahren zu umschiffen weiß, geht er doch methodenbewusst zu Werk. Und eines zeigt sich gleich: Der Mann kann schreiben. Und er versinkt nicht in Materialbergen. Zwar ist alles genau belegt - Literaturangaben und Endnoten füllen ganze 70 Seiten -, doch der fast 600 Seiten lange Haupttext verheddert sich nie in überflüssigen Details und ist voller Esprit.
Ein zufriedener Egozentriker wuchs da heran
Ulrich Weber
Ulrich Weber, Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, hat eine lesenswerte Biografie vorgelegt.
"Ein zufriedener Egozentriker wuchs da heran" - diese lapidare Feststellung macht Ulrich Weber bereits auf der zweiten Seite seiner Schilderung von Dürrenmatts Kindheit. Das ist nicht einfach salopp hingeschrieben, sondern mit reichlich Material unterfüttert, zeigt aber, dass dieses Material nie Selbstzweck ist und Weber das Urteil nicht scheut - weder, wenn es um die Person, noch wenn es um das Werk von Dürrenmatt geht.
Aus diesem Werk wird auch reichlich zitiert, und man kann hier vieles lesen, was außerhalb der 37-bändigen Dürrenmatt-Werkausgabe nicht zu finden ist. Außerdem kann Weber auf viele unpublizierte Quellen aus dem Dürrenmatt-Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern zurückgreifen, ist er doch dessen Kurator. Zudem hat Weber im Vorfeld seiner Arbeit zahlreiche dokumentierte Gespräche mit Zeitzeugen aus der Familie und dem Umfeld von Dürrenmatt geführt.
"Die Bilder stürzten auf mich ein"
"Die Bilder stürzten auf mich ein. Sie ließen mich nicht mehr los", schreibt Dürrenmatt rückblickend über seine Jugend. Webers Biografie geht auch ausführlich auf das bildnerische Werk von Dürrenmatt ein, das sich im Centre Dürrenmatt in Neuchâtel, seinem langjährigen Wohnort, befindet. Vor allem aber zeigt Ulrich Webers Biografie, dass auch Dürrenmatts literarisches Werk nicht primär aus der Sprache, sondern aus Bildern kommt, für die er in einem oft mühsamen Prozess erst eine Sprache finden muss. Nicht zuletzt damit hängen die vielen Fassungen und Umarbeitungen der Werke von Dürrenmatt zusammen, der kein Werk und keinen Stoff je abschließen und liegenlassen konnte.
Damit war er für das Theater ein mühsamer Autor, der oft in Streit mit einem Regisseur geriet. Dass ein Stück bei Probenbeginn noch nicht abgeschlossen war oder eine Hauptfigur wenige Tage vor der Premiere noch einen neuen Dialog bekam, war bei Dürrenmatt sowieso der Normalfall. Er konnte ein Stück nicht am Schreibtisch fertigstellen, sondern erst im Entstehungsprozess am Theater. Dass Dürrenmatt wie ein Meteor - eine zentrale Metapher Dürrenmatts für die Wirkung eines Schriftstellers - in der Theaterwelt einschlug und schnell verglühte, hängt auch damit zusammen, dass es im immer präziser getakteten Theateralltag kaum mehr eine Bühne gab, die sich diesem mühsamen Entstehungsprozess aussetzen wollte.
Es gäbe einiges zu entdecken
Tatsächlich wurde Dürrenmatt mit seinen Kriminalromanen "Der Richter und sein Henker", "Der Verdacht" und "Das Versprechen" früh zum Schulbuchklassiker, und sein Stück "Der Besuch der alten Dame" war ein Welterfolg, auf dem ein Broadway-Musical, ein chinesischer Comic-Strip und ein Film mit Ingrid Bergman in der Titelrolle basieren; nicht zu vergessen die gleichnamige Oper von Gottfried von Einem, die in Zusammenarbeit mit Dürrenmatt entstanden ist. 35 Jahre war Dürrenmatt alt, als dieses Stück 1956 uraufgeführt wurde und seinen Siegeszug um die Welt antrat; doch danach gelang ihm nur mehr ein einziger durchschlagender Theatererfolg, der sich auf den Spielplänen gehalten hat: "Die Physiker".
Und heute? "Der Besuch der alten Dame" war jüngst in einer überzeugenden Inszenierung am Theater in der Josefstadt in Wien zu sehen, aber sonst sind auch für das Jahr seines 100. Geburtstags wenig Dürrenmatt-Premieren angesetzt. Im deutschsprachigen Raum feiert die Unsitte, seine Romane auf die Bühne zu stellen, fröhliche Urständ. Fehlt nur noch, dass jemand seine Stücke zu Romanen umarbeitet. Dabei gäbe es auch neben den beiden Bühnen-Klassikern bei Dürrenmatt durchaus einiges zu entdecken: So wäre es zum Beispiel spannend, das Stück "Romulus der Große", das sich auf den Zerfall eines Großreiches bezieht, mit der heutigen weltpolitischen Situation in Bezug zu setzen.
Focus auf die "Stoffe"
Aber dass Dürrenmatt als Dramatiker quasi aus der Zeit gefallen ist, dieser Prozess hat schon zu seinen Lebzeiten eingesetzt. Ulrich Webers Biografie legt ihren Focus vor allem auf Dürrenmatts zweite Lebenshälfte und analysiert die Genese des Spätwerks, besonders der "Stoffe" - einen sich im Schreibprozess wandelnden, einzigartigen Autobiografie-basierten Prosakomplex an der Grenze von Erzählung und Essay. Weber zieht die "Stoffe" auch immer wieder als Quelle für seine Biografie heran, zeigt aber gerade dabei den fiktiven Charakter auch dieses Werkes, das der Konfrontation mit den Quellen auf Faktenebene oft nicht standhält, aber in der Überformung dieser Fakten durch Dürrenmatts Fantasie künstlerisch recht hat.
Diese Überformung durch die Fantasie ist ein roter Faden in Dürrenmatts Werk, gleichgültig ob er auf wissenschaftliche Thesen zugreift oder sich mit Politik auseinandersetzt. Dürrenmatt ist ein Denker, und er wäre ohne den Philosophen Sören Kierkegaard als Autor nicht vorstellbar, wie er selbst schreibt. Trotz aller Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft - die Astronomie faszinierte ihn besonders - blieb er ein individueller und von Bildern geprägter anarchischer Denker, der auch in politischen Statements das Individuum verteidigte.
Sollte man unbedingt lesen
Ausführlich zeigt Webers Biografie die lebenslange Auseinandersetzung des protestantischen Pfarrersohns Dürrenmatt, die in den Atheismus mündete, aber auf religiöse Bilder und Denkfiguren bezogen blieb. (Ironie der Lebensgeschichte: Sein Sohn wurde Pfarrer.) Vor allem ist Dürrenmatt ein Autor, der aufs Ganze geht, der sich nicht nur Figuren und Geschichten ausdenkt, sondern Anläufe einer Weltinterpretation macht, auch wenn er als Skeptiker weiß, dass eine solche Interpretation weder denkerisch noch künstlerisch möglich ist.
Natürlich zeigt Ulrich Webers Buch mit dem zurückhaltenden Titel "Friedrich Dürrenmatt - Eine Biographie" auch den Schriftsteller als Privatmenschen. Am nachhaltigsten berührt die Schilderung der Ehe mit seiner ersten Frau Lotti - ein komplexes System gegenseitiger Abhängigkeiten, aus dem es kein Entkommen gab. Lotti versank in Depressionen und Krankheiten, Dürrenmatt gelang die Flucht in die Arbeit und gelegentliche Affären. Er, der ganz und gar kein Briefschreiber war, schrieb Lotti nicht wenige Briefe, die man nicht vergisst, wenn man Webers Biografie gelesen hat. Und die sollte man unbedingt lesen, gehört sie doch zu den faszinierendsten Beispielen dieses Genres, die in den letzten Jahren erschienen sind. Ulrich Weber ist kein Moderator von Fakten, sondern zeichnet das perspektivenreichste Panorama von Dürrenmatts Leben und Werk, das man sich wünschen kann.
Service
Ulrich Weber, "Friedrich Dürrenmatt - Eine Biographie", 752 Seiten, Diogenes