Mann mit Schildkröte, Schönhauser Allee

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Fotoband

Mit einer Schildkröte durch Berlin

Berlin mit seiner wechselvollen und ungewöhnlichen Geschichte war bereits Thema zahlreicher Bildbände und auch das Nachtleben der Stadt wurde immer wieder abgelichtet. Der vor kurzem erschienene Fotoband "Nachtwach Berlin", ein Gemeinschaftswerk des Fotografen Ingo van Aaaren und des Schriftstellers David Wagner, sticht dennoch hervor, denn der Protagonist des Buches ist - eine Schildkröte.

Der Schriftsteller David Wagner lässt sich durchs nächtliche Berlin treiben - die Kurfürstenstraße hinunter, durch Straßenunterführungen hindurch und am legendären Varieté-Theater "Wintergarten" vorbei. Gezogen wird er dabei ausgerechnet von einer Schildkröte.

Die Schildkröten der Pariser Bohème

Ausgeheckt hat das Konzept mit der Schildkröte an der Leine der Fotograf Ingo van Aaaren - nach eingehender historischer Recherche: "Es stellt eine Rückbesinnung dar auf das Paris des 19. Jahrhunderts, als die Stadt umgebaut wurde hin auf Geschwindigkeit, Effizienz und Industrialisierung. Damals gab es große soziale Gegenbewegungen, von denen man heute kaum mehr etwas weiß. Dazu gehörte etwa, dass sich die Bohème Schildkröten zugelegt hat, unter ihnen auch der Dichter Charles Baudelaire, und mit diesen Schildkröten sind sie dann spazieren gegangen und haben damit einen ironischen Kontrapunkt gesetzt gegen diese Idee der Beschleunigung."

Mann mit Schildkröte spaziert durch das nächtliche Berlin

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Walter Benjamin und die Kunst des Flanierens

Gestoßen ist Ingo van Aaaren auf die Schildkröten der Bohème bei Walter Benjamin. In seinem "Passagenwerk" heißt es da.

"Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort, sondern Taylor, der das ‚Nieder mit der Flanerie‘ zur Parole machte."

Nicht so Ingo van Aaaren und David Wagner. Ihr Buch "Nachtwach Berlin" feiert die Kunst des Flanierens. Des gemächlichen Spazierens durch die nächtlichen Straßen, zu dem auch das Zwiegespräch mit der Stadt gehört. Das führt David Wagner über seinen Schrittmacher die Schildkröte und da geht es dann um den Hollywood-Ruhm einer Berliner Straßenunterführung, die schon im Agententhriller The Bourne Supremacy oder im Superheldenepos Captain America als Schauplatz zu sehen war. Oder um die Gentrifizierung der Kurfürstenstraße.

Kulturforum

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Distanz / Ingo van Aaren / David Wagner

Die Auswahl der Orte

Die Schauplätze für die Fotos hätte er gemeinsam mit David Wagner ausgesucht, erzählt Ingo van Aaaren. Ausschlaggebend waren neben der Bildkraft des Ortes, auch die Geschichten, die sie zu erzählen hatten, und die Geschichte, die in ihnen steckte. Van Aaaren hat selbst Geschichte studiert, bevor er Fotograf wurde. Deshalb haben ihn besonders diejenigen Orte interessiert, an denen sich verschiedene historische Ereignisse auf engstem Raum begegnen.

"Eines meiner Lieblingsbilder ist vor einem Haus auf der Berliner Museumsinsel entstanden, das heute zur Humboldt-Universität gehört", sagt Ingo van Aaaren. "Das Haus wurde im 19. Jahrhundert erbaut, in seiner Fassade finden sich Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg und davor steht eine klassische Straßenlaterne aus DDR-Zeiten. Das sind die Orte, die mich interessiert haben, wo sich verschiedene zeitliche Schichten sich unmittelbar nebeneinander zeigen."

Die Berliner Mauer aus Licht

Apropos Straßenlaternen. Weil Ingo van Aaaren nicht auf künstliche Lichtsetzung, sondern nur auf die vorhandenen Lichter der Großstadt zurückgreifen wollte, gaben Straßenlaternen oft die Perspektive für ein mögliches Foto vor. Darüber hinaus stießen sie ihn auch auf eine interessante Entdeckung:

"Diese klassischen DDR-Straßenlaternen geben ein anderes Licht als die im ehemaligen West-Berlin", erzählt Ingo van Aaaren. "Aus einer Drohnenperspektive kann man deshalb bis heute sehen, wo die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin verlaufen ist. Auf solche Spuren zu stoßen, war eine spannende Begleiterscheinung dieses Projekts."

Nächtliche Begegnungen

Zum Konzept gehörte die Einsamkeit und Menschenleere der Stadt. Deshalb brachen Wagner und van Aaaren oft erst weit nach Mitternacht zu ihren Wanderungen auf. Wenn man, weil kaum mehr Autos unterwegs sind, mitten auf der Straße gehen kann, erschließt einem das einen völlig neuen Blick auf die Stadt und ihre Häuser erzählt van Aaaren.

Berliner Hauptbahnhof

Distanz / Ingo van Aaren / David Wagner

Hauptbahnhof

Außerdem hätten ihre nächtlichen Spaziergänge zu teils interessanten, teils skurrilen Begegnungen geführt. "Ein Flüchtling hat uns von seinen Schildkröten erzählt, die er in seiner Kindheit in Afghanistan besessen hat", so Ingo van Aaaren. "Andere fragten uns, ob wir Drogen verkaufen würden, was für uns eine völlig unsinnige Annahme war, weil wir ja mit einer Schildkröte unterwegs waren. Und dann hat uns die Polizei auch mehrmals aufgefordert, obwohl wir Grün hatten, die Straße schneller zu überqueren, Schildkröte hin oder her."

Utopie oder Dystopie

Die Arbeit an ihrem Buch "Nachtwach Berlin" begonnen, haben Ingo van Aaren und David Wagner bereits vor zwei Jahren. Die letzten Bilder entstanden im Frühjahr 2020, zur Zeit des ersten Lockdowns. "Da hätten sie dann gemerkt", so Ingo van Aaren, "dass wir die Stadt und die Nacht anfangs als einen sehr utopischen Raum wahrgenommen haben. Als dann die Pandemie kam, war es zwar einfacher die Leere und die Einsamkeit in der Stadt zu finden, wir merkten aber beide, wie die Atmosphäre von utopisch in Richtung dystopisch umschwenkte. Damit einher ging, dass wir uns auch gar nicht mehr wohlgefühlt haben in den Situationen, die wir vorher noch gesucht hatten."

Das Schildkrötenorakel

Nachtwach Berlin schält die nächtliche Stadt wie eine Zwiebel, legt Schicht für Schicht ihrer Geschichte frei. Aus diesem Blick zurück, schöpft der wahre Flaneur aber Ideen für die Zukunft. Oder wie Schildi die Schildkröte an einer Stelle zu David Wagner meint: Lies die Orakelschrift auf meinem Panzer und erzählt dann, dass einst die alten Chinesen anhand von Schildkrötenpanzern in die Zukunft gesehen hätten.

Service

Ingo van Aaren und David Wagner, "Nachtwach Berlin", Fotoband, Distanz

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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