Fiktive Landkarte

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Erinnerungen

"Der kürzeste Weg führt um die Welt"

Hans-Jürgen Heinrichs, Jahrgang 1945, ist studierter Ethnologe, Schriftsteller und Weltreisender und war in früheren Jahren ein umtriebiger Hansdampf in mancherlei intellektueller Gasse. "Der kürzeste Weg führt um die Welt" ist ein Band mit Erinnerungen an die Suche nach Welterkenntnis.

Rom, 1969, das Goethe-Institut. Peter O. Chotjewitz liest. Im Publikum, in der letzten Reihe, ein junger Bursche, langes Haar, Milchgesicht. Er langweilt sich. Eine Zigarette will er dem Autor noch zugestehen, und wenn die Lesung dann nicht mitreißender wird, den Saal verlassen. Doch sein Päckchen ist leer. Die Frau neben ihm raucht und kann Gedanken lesen. Sie bietet ihm eine Gauloise an, ihre Blicke treffen einander: Gehen wir? Die beiden schleichen sich aus dem Saal, landen in einem Café und tauchen in ein Gespräch ab.

So beginnen Affären - oder könnten es auch Liebesgeschichten sein? So wie bei Hans-Jürgen Heinrichs und Ingeborg Bachmann: In seinem Buch "Der kürzeste Weg führt um die Welt", einer Art Autobiografie, lüftet Heinrichs das Geheimnis seiner Verbindung mit der großen Dichterin. Er hat sie als Student in Rom kennengelernt, eine Begegnung, die ihn beeindruckt und berührt hat, wie man spürt: Sie bildet nun die umfangreichste und dichteste Passage eines Buches, in dem es nur so wimmelt vor klangvollen Namen.

Meister der Freundschaft

Hans-Jürgen Heinrichs, Ethnologe, Autor, Verleger und Reisender aus Leidenschaft, ist ein Meister der Freundschaft, wie Durs Grünbein im Vorwort des Bandes konstatiert: Es gelingt ihm, Herzen zu öffnen, Vertrauen zu schaffen und sich in einer fast schon genialen Form der Mimikry an Menschen heranzutasten, die sich ansonsten verschlossen zeigen. So auch an Ingeborg, wie sich die Signora vorstellt, mit der er in Rom bei Espresso, Cappuccino und ungezählten Zigaretten zusammensitzt.

Er plaudert unbefangen aus dem Nähkästchen, erzählt von seiner Lektüre, von seinem Job als Mädchen für alles beim Film und von seinen Versuchen als Lyriker. Nicht ahnend, wen er wirklich vor sich hat. Sie schreibe ebenfalls, gesteht ihm seine neue Bekannte. Doch es dauert noch eine Weile, ehe er sie als die Bachmann identifiziert. Der Beginn einer Affäre, eines innigen Austauschs zwischen dem damals noch unbedarften jungen Mann und der psychisch labilen, in der Tablettensucht festsitzenden Dichterin.

Affäre mit Ingeborg Bachmann

Für Literaturwissenschaftler und Fans erschließt sich in diesen über hundert Seiten ein privater Einblick in die fragile Existenz Ingeborg Bachmanns. Hans-Jürgen Heinrichs hat die Tage und Wochen der Zweisamkeit offenbar genau protokolliert und weiß heute noch die damaligen Gespräche über Hölderlin, Heidegger, Henze und Hermeneutik wiederzugeben. Die Schilderung all dieser Szenen ist dann auch typisch für dieses Erinnerungsbuch: Der Autor spiegelt sich und sein Leben im Aufeinandertreffen mit berühmten Persönlichkeiten.

Zugleich läuft - in kleinen Splittern und poetisch überhöhten Episoden - die Reflexion über das eigene Dasein mit. Wobei er zurückhaltend ist mit Details aus seiner Biografie und davon nur bruchstückhaft und kursorisch berichtet: Da ist die Jugend am Land, der Vater, der den Sohn in die schwere Arbeit am Feld zwingt und dessen Liebe zu Büchern verurteilt, und die Mutter, die ihm Mandarinen kauft: Sie versteht sein Fernweh. Das Unterwegssein wird zur Möglichkeit der Selbsterfahrung und Emanzipation, das Studium der Ethnologie entfacht die Sehnsucht, sich im Unbekannten zu verlieren.

Blick durchs Schlüsselloch in Schreibwerkstätten

Heinrichs ist inzwischen 75, und das Archiv seiner Tonbandaufnahmen von Interviews mit Prominenten gut bestückt: Aus diesen Dokumenten wächst nun ein Buch heraus, das eine Lebensreise beschreibt, unorthodox und ohne chronologische Vorgangsweise. Ein Fressen für Voyeure und für alle, die der Blick durch das Schlüsselloch in die Schreibwerkstätten, Salons und Ateliers von Größen der Geistes- Literatur und Musikgeschichte fesselt oder amüsiert, die Interessantes aus dem Mund von Michel Leiris, Jorge Semprún oder Michel Foucault hören wollen, von Nathalie Serraute oder Paul Nizon. Mit dabei sind übrigens auch Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und Peter Handke, für den Heinrichs eine Art Hassliebe empfindet, seit dieser ihm die Geliebte ausgespannt hat.

Dazwischen stehen Reflexionen über das Erzählen, dazu Gedichte, Fotos und Reise-Bilder aus Mali, dem Sudan, wo er Leni Riefenstahl bei ihrer Arbeit beobachtet, oder aus der Sahara. Große und kleine Ereignisse folgen aufeinander, vieles ist anregend, anderes nicht mehr als eine Art Namedropping und gepflegter Klatsch.

Buchcover

DIE ANDERE BIBLIOTHEK

"Der kürzeste Weg führt um die Welt" von Hans-Jürgen Heinrichs ist in der anderen Bibliothek erschienen

Stilisierungen & Ressentiments

Zugleich ist auf Schritt und Tritt der Anspruch des Ethnologen zu spüren, sich selbst in Bezug zu setzen zu fremden Kulturen und Traditionen, die er in Abenteurermanier vor uns ausbreitet. Dass Heinrichs über ein fundiertes, vielseitig geschultes Wissen verfügt, wird schnell klar. Zugleich geht er seinen Stilisierungen und Ressentiments auf den Leim. Alles, was ihm widerfahren ist, wird mit Bedeutung aufgeladen, beginnend bei seiner Geburt: Seine Mutter war im Dezember 1944 mit zwei kleinen Söhnen von Danzig aufgebrochen und nach Gotenhafen geflüchtet, hochschwanger. Doch als sie dort ankam, war die "Wilhelm Gustloff" mit über zehntausend Flüchtlingen und Verletzten übervoll belegt und nahm die drei nicht an Bord. Was ihr Glück war, denn das Schiff wurde vor der Küste Pommerns von den Russen torpediert und sank.

"War mein Leben todgeweiht, bevor ich das Licht der Welt erblickt hatte, oder war ich, ganz im Gegenteil, zum Leben bestimmt?" Das ist eine jener ihn quälenden Fragen, die Hans-Jürgen Heinrichs dazu bewegen, rastlos die Wunder aller Kontinente zu erkunden. Das Motiv der Flucht durchzieht diesen Band, der höchst widersprüchliche Gefühle evoziert: Er ist spannend, lehrreich und zugleich überheblich, amüsant, unterhaltsam und doch auch lähmend in der Selbstinszenierung eines Autors, der seine Sprache immer wieder in poetische Höhen schraubt und das Pathos nicht scheut.

Hans-Jürgen Heinrichs hat seinen Betrachtungen ein Motto David Bowies vorangestellt. "Man muss seine Vergangenheit in sich versöhnen": Mission gelungen, wie man nach der Lektüre vermutet, Therapie beendet. Dem Schreiben sei Dank.

Service

Hans-Jürgen Heinrichs, "Der kürzeste Weg führt um die Welt", Die andere Bibliothek, Berlin, 2020

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