Akademietheater

KATARINA SOSKIC

"Pelleas und Melisande"

Regisseur Daniel Kramer im Porträt

Die Kulturinstitutionen des Landes sind geschlossen, der Probenbetrieb findet aber nahezu ungehindert statt. Im Akademietheater wird zurzeit Maurice Maeterincks "Pelleas und Melisande" geprobt. Das Stück des belgischen Autors, ein Märchendrama des Symbolismus aus dem Jahr 1892 ist vor allem durch seine Opernversion mit der Musik von Claude Debussy bekannt geworden. Regie führt - zum ersten Mal in Österreich - der amerikanische Regisseur Daniel Kramer, der das Stück für die Bühne bearbeitet hat.

Am Freitag war die vorläufig letzte Probe - bis definitiv fest steht, wann die Premiere sein wird, ist Kramer am Montag wieder zurück in die USA geflogen - rechtzeitig zur Inauguration von US-Präsident Joe Biden. Über die Situation in seiner Heimat, seine Arbeit ihn Wien und die düstere Stimmung des Stückes hat Ö1 mit Daniel Kramer gesprochen und porträtiert ihn im folgenden Beitrag.

Es ist ein Privileg, arbeiten zu dürfen …

Wien kannte Daniel Kramer bisher nur als Kulturtourist. Vor 20 Jahren war er zum ersten Mal hier, hat seinen Lieblingsmaler Egon Schiele im Leopoldmuseum entdeckt, die "Tote Stadt" an der Staatsoper gesehen, den "Faust" im Theater an der Wien und irgendeinen Klassiker an der Burg. Und weil die Stadt, in den neun Wochen seit er hier ist, fast durchgängig im Lockdown war, hat Kramer sie aus einer ganz neuen Perspektive kennengelernt. Um sich nicht mit Corona anzustecken, sei er so oft wie möglich zu Fuß gegangen und habe so die architektonischen Schönheiten entdecken können.

Obgleich es Fälle im Ensemble gegeben hat, ist Regisseur Kramer gesund geblieben. Mit Kapuzenpulli, leicht angegrauter Lockenpracht und dunklem Vollbart erscheint er gut gelaunt zum Interview. Es ist Freitagabend und sein Geburtstag - der vierundvierzigste. Den ganzen Tag hat er im Akademietheater geprobt. Dass er nicht feiern kann, stört ihn nicht, es sei schon ein Privileg arbeiten zu dürfen, besonders wenn er an seine Kollegen in den USA und in England denke, die ihrer Arbeit überhaupt nicht nachkommen könnten, so Kramer.

Reflexion der Stimmungslage

"Pelleas und Melisande" - eines der Hauptwerke des Symbolismus - ist auf der Handlungsebene eine simple Dreiecksgeschichte. In einem fiktiven Königreich auf der Insel Allemond, findet Prinz Golaud im Wald eine geheimnisvolle Frau, der scheinbar Schreckliches widerfahren ist. Er nimmt sie mit auf sein Schloss, heiratet sie, muss aber erkennen, dass zwischen ihr und seinem Bruder Pelleas eine stärkere Bindung besteht. Rasend vor Eifersucht tötet Golaud den Bruder, Melisande stirbt nach der Geburt ihres Kindes.

Dunkel, düster, voller Vorahnungen und Andeutungen ist das Stück - bei Kramer kommt eine subtile Brutalität dazu, die einem wie Kälte in unter die Haut kriecht. Die unheimliche Atmosphäre des Stückes, die feindliche Außenwelt, die spürbare Enge der Insel und die permanente Gefahr, der die Protagonisten ausgesetzt sind, reflektiere auf gewisse Weise die derzeitige Stimmungslage, so Kramer.

Ich wollte mich auf Melisande konzentrieren, aber (...) jetzt erzählte ich auch von der Möglichkeit sich zu verwandeln

"Der Tod ist in diesem Stück immer gleich um die Ecke - der Schrecken lastet permanent auf dieser Familie, das Grauen des Todes und der Krankheit in jeder Form. Ich hab‘ mich mit dem Stück schon ein Jahr vor der Pandemie auseinandergesetzt, und wollte mich eigentlich ganz auf das Trauma von Melisande konzentrieren, aber jetzt hat es noch eine andere Bedeutung bekommen. Jetzt erzählte ich mit diesem Mythos auch von der Möglichkeit sich zu verwandeln."

Untersuchung der eigenen Familiengeschichte

Die Geschichte der Melisande habe ihn schon seit seiner Jugend begleitet, so Kramer und er sei vielen Melisandes begegnet. "Ich hab das Stück mit 20 gelesen und wollte es immer schon inszenieren, um etwas von der Dunkelheit meiner eigenen Familiengeschichte zu untersuchen und tatsächlich hat sich mir da eine dunkle Welt aufgetan. Die Themen des Stückes sind Trauma und Abhängigkeit und die ganz starren Muster, in die wir schon sehr früh gepresst werden und aus denen es scheinbar kein Entkommen gibt. Aber man kann sie durchbrechen und ich fühle diese Kraft in der Figur der Melisande, die erkennt, dass der erste Schritt zur Veränderung jener ist, zu fliehen, wegzugehen."

Auch für Daniel Kramer war das Weggehen aus den USA ein Schritt zur Transformation als Künstler. Er studierte in London und Italien, arbeitete als Tänzer und war an der Royals Shakespeare Company engagiert. 2016 bis 2019 leitete er als künstlerischer Direktor die English National Opera London. Kramers Repertoire umfasst Schauspiel, Oper, Musical und Tanztheaterproduktionen. Von "Hair" bis "Woyzeck", von "Romeo und Julia" bis "Angels in America". Und auch "Pelleas und Melisande" hat er schon als Oper verwirklicht - gemeinsam mit Valerie Gergiev in St. Petersburg.

"Der Sturm auf das Kapitol war vorauszusehen"

Jetzt ist es Zeit zurückzugehen nach Boston. In den USA wartet ein Haus auf ihn, ein Lebensgefährte, und ein neuer Präsident. Rechtzeitig zur morgigen Inauguration wird er dort sein und feiern, dass die vier Jahre Schreckensherrschaft vorbei seien. Der Sturm auf das Kapitol sei vorauszusehen gewesen, so Kramer.

Kramer selbst ist in der Reagan-Ära aufgewachsen. "Alles was du willst kannst du erreichen" sei die Mentalität der damaligen Zeit gewesen, selbstbewusst und voll Zukunftshoffnung und immer mit der Dankbarkeit im Herzen, nicht im kommunistischen Polen aufwachsen zu müssen. Aber jetzt ernte man die Früchte der neoliberalen Politik, den Tod des Gesellschaftsvertrages, die Geburt des reinen Individualismus und die Gefährlichkeit eines maßlosen Kapitalismus, so Kramer.

Amerika wird sich einer schmerzhaften Häutung unterziehen müssen

"Ich fürchte, dass Amerika sich einer sehr schmerzhaften Häutung wird unterziehen müssen, um sich zu ändern. Und Joe Biden kann vielleicht temporär eine Brücke bilden, aber ich bin nicht sicher, wie stark die ist. Wenn man sich anschaut, wie viele Menschen diese tiefkorrupte Partei gewählt haben, dann denke ich, dass uns da eine sehr schmerzhafte vielleicht blutige Veränderung bevorsteht."

Der Graben zieht sich auch durch Familien

Im letzten Jahr hätte sich der gesellschaftliche Graben, der das ganze Land trennt, auch durch Familien gezogen. "Es gibt Geschwister, die nicht mehr miteinander sprechen, weil einer Trump-Wähler ist und der andere homosexuell oder mit einem Schwarzen verheiratet. Und ich weiß nicht, wie wir diesen Graben überwinden werden mit sozialen Medien, die zu giftigen Waffen geworden sind, mit dem allgemeinen Niedergang der Bildung und der Tatsache, dass Menschen Nonsens lesen und daran glauben. Baudrillard, der große französische Philosoph hat von der virtuellen Realität geschrieben - und die ist jetzt in unseren Köpfen angekommen. Man kann in einer komplett anderen Welt leben - abgekapselt von der Wirklichkeit, von der realen Welt, die zugrunde geht, die schreit, die verbrannt wird und Viren produziert, die unseren Körper vernichten."

Eigentlich hätte Kramer vorgehabt in Europa zu bleiben, in der Schweiz und in Deutschland wären Produktionen angesetzt gewesen, die abgesagt wurden. Wenn es einen Premierentermin gibt, kommt er wieder nach Österreich, bis dahin wartet er geduldig in den USA - und auch da ist er wenig optimistisch.

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