Ausschnitt des Buchumschlags, Frau steigt in Oldtimer

ROWOHLT VERLAG

"Der größte Reichtum"

Olivia Mannings Gespür für die Zeit

Die britische Schriftstellerin Olivia Manning, 1908 in Portsmouth geboren und 1980 auf der Isle of Wight gestorben, hat mit ihrem Hauptwerk "Fortunes of War" nach Ansicht von englischsprachigen Kritikern einen der am meisten unterschätzten Romane des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben.

Der Rowohlt Verlag bringt den sechsbändigen Zyklus der Autorin, die bei uns noch nahezu unbekannt ist, nun sukzessive in einer Neuübersetzung auf Deutsch heraus. Der erste Teil heißt "Der größte Reichtum".

Olivia Manning vertrat die Ansicht, dass sie aus Mangel an Fantasie nur über das schreiben könne, was ihr widerfahren sei. Wenig war das nicht. Ihr Leben bescherte der 1908 geborenen Schriftstellerin einen außergewöhnlichen literarischen Stoff: Sie kam zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Bukarest, wo ihr Mann Englisch unterrichtete, und floh mit diesem vor den anrückenden Deutschen ein Jahr später über Griechenland nach Ägypten.

Zurückhaltende Britin in Bukarest

Verarbeitet hat Manning ihre Erfahrungen in dem aus zwei Trilogien bestehenden Werk "Fortunes of War". Doch berühmt wurde sie dafür in ihrer Heimat erst nach ihrem Tod. Hierzulande ist Manning, obwohl bereits teilweise ins Deutsche übertragen, noch immer kaum bekannt. Nun ist der erste Band des Großwerks in einer gelungenen Neuübersetzung erschienen und macht deutlich, dass Mannings Erzählung der breiten literarischen Produktion, die sich mit der Kriegszeit befasst, ein faszinierendes Kapitel hinzufügt.

Bemerkenswert ist nicht allein der abgelegene Schauplatz Rumänien, sondern mehr noch die vorherrschende Perspektive. Die Hauptfigur Harriet Pringle, Manning durchaus ähnlich, ist eine zurückhaltende Britin, die als Anhängsel ihres allseits bewunderten Mannes Guy nach Bukarest kommt. Ihr Status und ihr Temperament machen sie zu einer Außenseiterin und distanzierte Beobachterin, deren Wege durch die Stadt zu einem Parcours aus Anziehung und Abscheu werden.

Die Frauen jedoch waren so unerbittlich wie Dampfwalzen

Für sie war der Spaziergang eine körperliche Herausforderung. So gemächlich sie auch schlenderten, die Rumänen hielten sich finster entschlossen und skrupellos auf dem Gehweg. Nur Bauern oder Bedienstete sah man auf der Straße gehen. Wenn sie unter Druck gerieten, wichen die Männer wohl einige Zentimeter zur Seite, die Frauen jedoch waren so unerbittlich wie Dampfwalzen. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, während sie, kleingewachsen und kräftig, mit Hintern und Brüsten auskeilten, die schwer waren wie Beutel voll Schweineschmalz.

Während Guy in seiner Arbeit aufgeht und komplizierte Beziehungen zu anderen Frauen pflegt, bleibt Harriet eine Fremde. Ihr nuanciertes Bild der Stadtgesellschaft und der Zeitumstände formt sich aus eigener Anschauung und im Gespräch mit anderen Zugereisten.

Verquere Moralvorstellungen und bittere Armut

Im kommunistischen Rumänien stand das wenig schmeichelhafte Porträt der einheimischen Kriegsgesellschaft als staatsgefährdend auf dem Index. Bukarest erscheint Harriet als unzivilisierte Stadt, die eher orientalisch als europäisch geprägt ist. Verquere Moralvorstellungen paaren sich mit bitterer Armut, die durch den Zustrom von polnischen Flüchtlingen noch verstärkt wird. Harriet ist zwar kaum frei von Vorurteilen, die Schärfe ihrer Wahrnehmung und ihres Urteils wird dadurch allerdings mitnichten getrübt. Die Straßen, in denen sie unterwegs ist, sind voller Bettler, die bei Einbruch des Winters sterben.

Jeden Morgen macht ein Karren die Runde und sammelt die steifgefrorenen Körper ein, die aus dem Schnee ausgegraben werden. Die apathische Gleichgültigkeit, mit der die Einheimischen das abstoßende Leid hinnehmen, bleibt Harriet fern.

Vor einem Fleischstand nahm sie plötzlich einen übelerregenden, fauligen Geruch neben sich wahr

Als sie vor einem Fleischstand stehen blieb, um Kalbfleisch zu kaufen, nahm sie plötzlich einen übelerregenden, fauligen Geruch neben sich wahr. Als sie sich umwandte, sah sie eine uralte, zwergenwüchsige Frau, die ihr einen Armstumpf entgegenstreckte. Hastig suchte sie nach einer Münze, fand jedoch nichts Kleineres als einen Hundert-Lei-Schein. Sie wusste, dass es zu viel war, dennoch gab sie ihn ihr. Wie befürchtet führte das zu Ärger. Die Frau stieß einen schrillen Schrei aus und rief so eine Schar von Kindern herbei, die sich sofort an Harriets Fersen hefteten, ihre Missbildungen schwenkten und in professioneller und unbarmherziger Erbärmlichkeit bettelten.

Wachsende Unsicherheit

Die erschütternden Bilder des Elends sind von geradezu fotografischer Präzision. Ebenso gekonnt fängt Manning die wachsende Unsicherheit in der Stadt ein, die sich im Durcheinander der Meinungen und Ansichten zur Lage des Landes spiegelt.

Bruchlos gelingt es ihr überdies, politische Entwicklungen in die Erzählung einzubinden. Als der König eine Ansprache hält, in der er versichert, dass Rumänien sich niemals und niemandem ergeben werde, jubeln einige. Aber die meisten schauen sich verstohlen um, ob nicht der Feind die Worte als Provokation auffassen könnte. Es bleibt indes lange unklar, von wem die größere Gefahr ausgeht, mal werden die Deutschen, mal die Russen als entscheidende Bedrohung angesehen. Dann wieder scheint Rumänien glücklich abseits der großen Frontlinien zu liegen.

Diplomaten, Geschäftsleute und Spione

Eine einprägsame Runde von Reportern, Diplomaten, Geschäftsleuten und Spionen trifft sich bevorzugt in der Bar eines noblen Hotels. Der unvergessliche Prinz Jakimov, dessen schrulliges Schnorrertum schon allein die Lektüre des Romans wert ist, gehört dort gewissermaßen zum Inventar. Der verarmte Brite mit weißrussischen Wurzeln lebt gern auf großem Fuß und lässt sich am liebsten aushalten. Als ihm niemand mehr Geld leihen will, kommt er immer weiter herunter und muss schließlich sein Hotelzimmer räumen und in einen ärmlichen Außenbezirk umziehen. Seine skurrile Außenseitersicht ergänzt Harriets Perspektive.

Wer wollte schon für wenig Geld leben? Nicht Jakimov.

Als ihm klar wurde, dass er lernen musste, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen, stellte er sich in die Menschenmenge, die auf die Straßenbahn wartete. Als der Wagen heranfuhr, begann ein hysterischer Massenansturm, in dem Jakimov und eine alte Frau gewaltsam zu Boden geschleudert wurden. Die Frau rappelte sich wieder auf und kehrte ins Gefecht zurück. Nur Jakimov blieb zurück. Als die nächste Straßenbahn auftauchte, war er bereit zu kämpfen. Für ein paar Lei wurde er in die Stadtmitte befördert. - Man konnte hier für sehr wenig Geld leben, verstand er, aber wer wollte schon für wenig Geld leben? Nicht Jakimov. Er ging schnurstracks zur Englischen Bar und fand sie leer vor. Gezwungen, anderswo zu suchen, überquerte er den Platz, ging hinüber zu Dragomirs Delikatessengeschäft, ein Zufluchtsort, an dem ein Gentleman noch unangefochten ein wenig Käse kosten und ein oder zwei Gebäckstücke stibitzen konnte.

Buchumschlag

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Packend und präzise erzählt

Während die Bedrohung stetig wächst und die deutschen Armeen über West- und Nordeuropa herfallen, lässt Guy ein Shakespearestück einstudieren: "Troilus und Cressida". Die Proben für das Drama, das vom Fall Trojas erzählt und in dem auch Jakimov mitwirkt, sind vom Wunsch nach Normalität bestimmt, doch die lässt sich nicht wiederherstellen. Das Ende der Premierenaufführung fällt zusammen mit der bestürzenden Nachricht, dass Paris von den Deutschen eingenommen wurde.

Olivia Mannings wirklichkeits- und erfahrungsgesättigter Roman erzählt packend und präzise vom unaufhaltsamen Untergang der alten Welt und dem Versuch ihrer Protagonisten, irgendwo Halt zu finden. Wer Harriet und Prinz Jakimov bis zum Frühsommer 1940 durch die Bukarester Umbruchszeit begleitet hat, wird sich Mannings geschickter Führung gern auch weiterhin überlassen. Gelegenheit dazu ist schon bald: Im April erscheint unter dem Titel "Die gefallene Stadt" der zweite Band der Balkan-Trilogie in deutscher Übersetzung.

Text: Holger Heimann

Service

Olivia Manning, "Der größte Reichtum", aus dem Englischen von Silke Jellinghaus, mit einem Nachwort von Rachel Cusk, Rowohlt Verlag, 464 Seiten
Originaltitel: "The great fortune"

Wikipedia - Olivia Manning (englisch)

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