Aufgeklapptes Buch

NICOLE WENIGER

Aus dem Inneren des erloschenen Vulkans

Vulcania

Die bildende Künstlerin Nicole Weniger hat sich in den letzten Jahren mit der Ur-Identität der Tiroler, mit der Essenz Tirols beschäftigt, und sie hat einen alten Mythos um den Innsbrucker Hausberg Patscherkofel ausgegraben und weitergesponnen. Aus Performances, Fotos, Zeichnungen, Kupferstichen und Texten ist das Buch „Vulcania“ entstanden.

Die Tiroler sind ein schon historisch eigensinniges, gar seltsam Völkchen, das sich im ewigen Gerangel mit Wien nicht unterkriegen lässt - selbst in pandemischen Zeiten nicht. Und gerade in pandemischen Zeiten üben die Tirolerinnen - notfalls unter Androhung, die Schützen aufmarschieren zu lassen - ihr Menschenrecht auf Freiheit und Selbstentfaltung aus, und das bedeutet: Raufgondeln, Runterwedeln, Schispringen, Radfahren, Wandern. Die Weite der majestätischen Berglandschaft genießen. Da sei was Wahres dran, sagt die bildende Künstlerin Nicole Weniger.

Blick in das Buch

NICOLE WENIGER

Landschaft und Identität

Das Wechselspiel von Raum und Identität ist ihr thematisches Interesse, Performance und Fotografie sind ihre Medien. Berge, sagt sie, können begrenzend sein, aber auch horizonterweiternd - wenn man sie etwa nützt, um einen Blick auf die andere Seite zu werfen, über den Tellerrand zu schauen. Die Perspektive zu wechseln.

Sie hat Tirol einst verlassen, um in Wien an der Universität für Angewandte Kunst bei Brigitte Kowanz Transmediale Kunst zu studieren. Zehn Jahre sollte sie in der österreichischen Hauptstadt bleiben - dann tönte der Ruf der Heimat; 2018 kehrte sie zurück nach Innsbruck. „Ich hatte schon immer einen starken Freiheitsdrang und eine große Neugierde für Unbekanntes“, so Weniger, „daher war die Kunst für mich faszinierend. Das Leben in Wien und die Distanz zum Ort, wo ich aufgewachsen bin, hat dann doch sehr spürbar gemacht, wie mich die Umgebung dort und die Landschaft beeinflusst haben. Da war für mich klar, wenn mich das gerade so inspiriert, dann ziehe ich wieder da hin und kann vor Ort arbeiten und meinen Interessen nachgehen.“

Stracciatella

NICOLE WENIGER

Stracciatella

Die Essenz des Tirolertums

Dem Ruf des Tirolers als „sturkopferter Bergmensch“ werde gerade alle Ehre gemacht, sagt Weniger in Hinblick auf die Pandemie-Debatten über Skiliftöffnungen und Grenzschließungen, sie fühle sich wie im fünften Teil von Felix Mitterers Piefke-Saga. Dem evolutionären Ursprung genau dieses sturkopferten Bergmenschen geht Nicole Weniger in einem Kunstprojekt nach, das nun in ein von Julia Stubenböck gestaltetes Buch verpackt wurde: „Vulcania“ nennt sie es. Das Buch enthält dokumentarische und künstlerische Fotos, Texte und Textfragmente, Kupferstiche und Zeichnungen.

Ausgangsthese von Wenigers Projekt „Vulcania“ ist der Mythos, der Patscherkofel, also der Innsbrucker Hausberg, sei ein erloschener Vulkan - eine wissenschaftlich nicht haltbare Behauptung, die aber zuweilen sogar in der Volksschule als Tatsache vermittelt wird. Diesen Mythos greift Nicole Weniger spielerisch auf und gibt ihm einen weiteren Dreh: Aus dem Inneren des Berges seien sonderbare Wesen entstiegen, die die Urahnen des Tiroler Volks sein könnten und sich an die Erforschung des Innsbruckertums machen.

Erstmals ans Tageslicht gekommen sind die Vulcania-Geschöpfe 2018, für eine Performance von Nicole Weniger im Innsbrucker Ferdinandeum: „Zentral war die ekstatische Feier des Ausbruchs des Patscherkofels, mit Schnapsbrunnen und Musik. Parallel waren in den Nebenräumen Versuchsanordnungen aufgebaut, wo man sich von den Wesen testen lassen konnte. Nach Beantwortung von Fragen hat man Kristalle mit mehrfarbigen Schichten ausgehändigt bekommen, die darüber Auskunft gaben, wie sehr man vom Schatten des Patscherkofels geprägt ist.“

Auf den Spuren des Amateurforschers

Fotos dieser Performances sind im Buch abgebildet, es wurden aber auch neue Fotos gemacht - rund um einen Text des Autors Martin Fritz: das Tagebuch des fiktiven Charakters Romed Romedson. Dieser ist ein junger Mann, der in einer Heimtierbedarfartikel-Einzelhandelskette arbeitet und sich in seiner Freizeit umfangreichen Studien zu Tirolensien widmet. Er nimmt Kontakt auf zu den rätselhaften Wesen aus dem Inneren des Patscherkofels, die er die „Aufdecker“ nennt. Romed Romedsons wissenschaftliche Akribie verliert sich ebenso wie seine Spur - übrig bleibt ein Konvolut an Skizzen und Aufzeichnungen, die eben im Buch „Vulcania“ einsehbar sind.

„Der Text von Martin Fritz ist ja auch sehr absurd“, so Nicole Weniger, „man merkt, dass der Romed Romedson immer wieder abkommt von seinen Forschungen und sich beirren lässt durch Parallelforschungen.“ Es sei ihr wichtig, mit dem Heroischen und dem Pathetischen zu brechen.

Blick in das Buch

NICOLE WENIGER

Heimatfotografie, untergraben

Dem Pathos - der der Heimatkunde, der Erforschung der eigenen Ursprünge, der Selbstfindung letztendlich, innewohnt - schabt Nicole Weniger in „Vulcania“ mit feiner Klinge seine glänzende Oberfläche ab, indem sie hinterfragt, wer Anspruch auf Heimat hat und wie Identität konstruiert wird; und auch indem sie mit Konventionen der Heimatfotografie spielt. So hat sie in vergilbte Fotos mit Äckern und Landschaftsansichten ihre hybriden Vulkanwesen reingeschummelt, kaum merklich, kaum sichtbar etwa auf einem Felsen sitzend. Oder aber auch: Einige Exemplare der bizarren Wesen stehen prominent im Vordergrund vor einem Kukuruzfeld, während weit hinten der Patscherkofel eine Rauchsäule in die Luft schleudert.

Manche Fotos sind farblich so bearbeitet, dass sie antiquarisch und futuristisch zugleich wirken - die Gegenwart wird zur Retro-Utopie. Das Genre der Heimatfotografie ist von den Nationalsozialisten im Sinne der Rassenideologie instrumentalisiert worden, um Parallelen zwischen der Landschaft und dem Charakter von Bewohnerinnen zu ziehen. Die Heimatfotografie interessiert die Künstlerin in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt, als Medium der Abbildung von Meinungen und als Agens kollektiver Identitätsstiftungen.

Buchumschlag

NICOLE WENIGER

Leitfarbe: schwarz

Die Bilder geben Hinweise, sind aber in Bezug auf die doch recht stringente Narration über den verschollenen Amateurforscher keineswegs illustrativ eingesetzt. Leitfarbe des Buches ist - nicht schneeweiß wie die stolzen Berggipfel - sondern schwarz, in allen Facetten des Farbtons. Glatt glänzend wie die Magnetbänder, die von den Köpfen der Vulkan-Wesen flattern; matt schraffiert wie die Schatten der Landschaftsfalten in Nicole Wenigers Zeichnungen; flüssig und reflektierend wie die Skulpturen aus Bitumen, also Erdpech, deren Oberflächen hochauflösend abgebildet sind und an zerklüftete Topografien erinnern. Und dann auch so tief schwarz, wie die inneren Schluchten des Berges, in die die Vulkan-Wesen sich wieder zurückziehen werden, wenn sie ihre Forschungen draußen abgeschlossen haben.

Service

Ab 6. März 2021 gibt es im „Kunstkiosk in der Talstation“, dem neu eröffneten Kulturzentrum in der alten Talstation der Hungerburgbahn, eine von Nicole Weniger gestaltete „Vulcania“-Ausstellung.

Gestaltung

  • Anna Soucek

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