Ausschnitt des Buchcovers

EDITION ATELIER

Roman einer Exilantin

Martina Wied im Krähennest

Als erste Frau erhielt Martina Wied 1952 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Nun liegt ihr Roman "Das Krähennest" in einer Neuausgabe vor. Darin ist viel über das Leben in der Emigration zu erfahren.

Martina Wied, geboren 1882 in Wien, veröffentlichte 1936 ihren ersten Roman "Rauch über St. Florian". Im Gegensatz zu Robert Musil etwa ist Martina Wied heute wenig bekannt, doch wie Musil im "Mann ohne Eigenschaften" hat sie in ihrem Romandebüt das lineare Erzählen zugunsten einer panoramatischen Gesellschaftsbeschreibung aufgegeben. "Rauch über St. Florian" ist ein umfangreicher, aus unzähligen Fragmenten montierter Roman über ein österreichisches Dorf als Modell für den Ständestaat, mit all den Krisengewinnlern und -verlierern, Monarchisten, Opportunisten, Katholiken und national Gesinnten, die die damalige Gesellschaft eben ausgemacht haben.

Die Autorin wollte sich nicht fügen

Im englischen Exil ist eine Reihe von Romanen entstanden, die allerdings erst nach ihrer Rückkehr nach Österreich in den fünfziger Jahren erschienen sind und für die sie 1952 der großen Staatspreis für Literatur erhielt. Einer dieser Romane, "Das Asyl zum obdachlosen Geist" ist im vergangenen Jahr wiederaufgelegt worden, einen anderen, "Das Krähennest", kann man nun wieder entdecken.

Österreich in den frühen 1950er Jahren. Der Krieg ist vorbei, nun stürzt man sich in eine Zukunft voller Versprechen. Bloß nicht zurückschauen, der Blick muss nach vorne ziehen. An solche Aufrufe halten sich auch viele Schriftsteller jener Zeit. Martina Wied aber will sich nicht fügen in den blinden Glauben ans Morgen. Und so wird das Werk, das sie nach 1945 geschaffen hat, ziemlich unbeachtet am Rand des Literaturbetriebs vergessen. Wie etwa ihr Roman "Das Krähennest", der bei seinem Erscheinen 1951 bescheidenes Echo auslöste. Wer ihn heute liest, der spürt, dass er eines der wenigen Bücher ist, die Themen wie Faschismus, Ideologiegläubigkeit und Exil so differenziert umkreisen.

Von der Sorbonne ins englische Nest

Im Zentrum des Romans steht die Kunsthistorikerin Madeleine, die an der Sorbonne geforscht hat. Nach der Besetzung von Paris durch die Wehrmacht ist sie aus Paris geflüchtet und hat damit auch mit ihrem Lebenspartner Ernest gebrochen. Sie konnte es nicht verkraften, dass sich dieser in die Arme der Deutschen und des Maréchal Pétain geworfen hatte. Ein Verrat an seinen einstigen Ideen.

In England findet Madeleine an der Télème-Abtei-Schule, salopp das Krähennest genannt, einen Job. Das Internat ist ein liberales, der Methode des Laissez-faire folgendes Institut, das den Jugendlichen große Freiheiten erlaubt. Die recht bunt gemischte Gruppe von Lehrern und Schülern ist nicht nur in Harmonie miteinander verstrickt.

Lehrerin an einem Internat

Entsprechend schwierig ist es für einige der jungen Menschen, sich emotional zu erden. Zu ihnen gehört auch Arthur, der Sohn des Direktors. Der feinnervige junge Bursche fügt sich nur widerwillig in die Vorgaben und Spielregeln der Anstalt, ist lieber draußen am Feld und in den Ställen als im Unterricht. Sehr zum Leidwesen seiner Eltern, denn sein Vater ist ein ambitionierter Pädagoge und auf dem Sprung zur politischen Karriere. Arthur durchschaut die Machtspiele der Erwachsenen, ihre Selbstinszenierungen und Täuschungen, das Hickhack und auch die verbotenen Annäherungen zwischen Erziehern und Zöglingen.

Was alles nicht passieren dürfte in einer so vorbildlichen Schule wie dieser. Doch die Heuchler, wie er sie nennt, gehen im Krähennest mit spitzen Schnäbeln aufeinander los, installieren eine brutale Hackordnung und schmeißen jene aus dem Horst, die schwächer und verletzlicher sind. Arthur beobachtet Imogen, der er sehr zugetan ist, und bemerkt mit Schrecken, wie sie nach einer Reihe traumatischer Erfahrungen in die Psychiatrie eingewiesen wird. Was ihn vollends aus der Bahn wirft.

Beklemmendes Landleben

Das Internat ist ein Kosmos, der Martina Wied vertraut war: 1939 gelang es ihr, das von Hitlers Schergen besetzte Österreich zu verlassen und nach England zu flüchten, wie Evelyne Polt-Heinzl in ihrem kundigen Nachwort berichtet. Sie ließ sich in Edinburgh, Glasgow und Wincanton in South Somerset nieder, an der Peripherie also, weit weg von den Zirkeln der Emigranten, die sich gegenseitig zu bestärken suchten. Ziemlich alleingelassen schlug sich Wied als Lehrerin durch.

Entsprechend plastisch beschreibt sie das Krähennest als Schulgemeinschaf am Land und darin als Enklave jenseits der von Bombenangriffen gebeutelten Städte. Aber man ist dort nicht abgeschottet vom Rest der Welt und hört von den Gefechten an den Frontlinien, von Gefallenen und Toten. Es sind Nachrichten, die auch die Jugendlichen beschäftigen und ihr Lebensgefühl fragil werden lassen. Die Stimmung in der Télème-Abtei spitzt sich beklemmend zu. Ob Boshaftigkeit, Verrat oder Denunziation: Im Kleinen passiert, was draußen in der Welt an der Tagesordnung der neuen Machthaber ist. Was Madeleine, die mit ihren politisch und philosophisch hellsichtigen Freunden am Festland in regem Kontakt steht, als besonders beklemmend empfindet.

Buchcover

EDITION ATELIER

Souveräne Sprache und Komposition

Martina Wieds Roman, der sich in Sprache und Komposition souverän zeigt und mit inneren Monologen, Briefen, Träumen oder Radioreden operiert, hat etliche Längen. Er ist mitunter fast schon zu direkt in seinem Vorhaben, sich in den 1950ern, da man die Kriegsgräuel schnellstens zu vergessen trachtet, mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Doch es gilt, ihn im Rahmen einer Zeit zu sehen, da die Bewältigung der Vergangenheit mit aller Kraft verdrängt wurde.

Das Buch stellt wesentliche Fragen: Was ist der richtige Weg, wenn eine Gesellschaft in die Fänge zerstörerischer, menschenverachtender Ideologien gerät? Soll man ausharren oder fliehen, soll man sich vor Ort gegen den Terror wehren oder ihn von außen, fern der Heimat also, bekämpfen? Sofern Verzweiflung und Resignation nicht zu einer Lähmung und inneren Emigration führen.

Schleichende Veränderungen

Martina Wied diskutiert das Thema anhand etlicher Figuren und unerwarteter Perspektivenwechsel. Madeleines Lebenspartner Ernest geht den Zielen Hitlers und den Verlockungen von Maréchal Pétain auf den Leim - und natürlich auch seinen Eitelkeiten: Er lässt sich zum Unterrichtsminister küren, um so als höchster Volkserzieher aufzutreten. Daneben gibt es Freunde, die als Pazifisten von der Schweiz aus agieren, oder den jungen Philippe, dereinst ein Verehrer von Ernest. Nun aber, da sich sein einstiges Idol für den Nationalsozialismus begeistert, kehrt er sich von ihm ab und tritt der Résistance bei. Er verübt schließlich einen Anschlag auf Ernest.

Dieses "Krähennest" führt vor, wie zerstörerische Lehren und Gesinnungen die Menschen verändern, ohne dass sie es sofort bemerken. Unsicherheiten und Angst wühlen die Gemüter so sehr auf, dass frühere Überzeugungen rasch bedroht sind. "Hüten wir uns darum vor solcher Zerlegung und Selbstzerlegung", so Martina Wied. "Von einem vielfältigen Ich zum Schizophrenen ist es nicht weit. Uns zu sammeln, darauf kommt es an." Um sich auf diese Weise treu zu bleiben und zu spüren, wo der ihm oder ihr gemäße Platz sein könnte im Widerstand gegen alle faschistischen Tendenzen.

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