"Gezähmtes Einhorn", Domenichino

GEMEINFREI

Diagonal

Ein Horngespinst

"Diagonal" auf den Spuren eines Fabelwesens. Essay von Constantin Kappe.

Warum das Einhorn 2018 in der Ausstellung "Irrtümer & Fälschungen der Archäologie" auftauchte, erklärt sich nicht auf den ersten Blick. Das Fabeltier wurde von der Popkultur ausgegraben und ist seitdem in den Regalen unserer Supermärkte allgegenwärtig: vom Spielzeug bis zur Schokolade, von Pantoffeln bis zum Faschingskostüm, vom Likör bis zum Toilettenpapier. Meistens handelt es sich um ein weißes Pferd mit zierlichem oder bewusst übergewichtigem Körper und gedrehtem Horn auf der Stirn. Besonders kitschige Exemplare zeichnen sich durch rosa- oder regenbogenfarbiges Haar aus.

Gelegentlich ermuntern Slogans augenzwinkernd dazu, entgegen der Mehrheitsmeinung daran festzuhalten, dass es Einhörner tatsächlich gibt: "I believe in unicorns!" Oder, wenn das Fabelwesen den Betrachter bzw. die Betrachterin selbst anspricht: "Believe in yourself!"

Der wissenschaftliche Kern

Jedem Kind ist heute klar, dass das Einhorn im realen Tierreich nicht vorkommt, doch scheint die Aufforderung, sich im kindlichen Glauben an Wunder nicht beirren zu lassen, den Nerv der Zeit zu treffen. Dass die Werbeindustrie die Frage nach der Existenz des Einhorns für sich entdeckt hat, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass genau diese Frage einen wissenschaftlichen Kern hat.

Über Jahrhunderte stellten Gelehrte Überlegungen darüber an, ob es das rätselhafte Tier tatsächlich gegeben hat. Wenn ja, so war eine Erklärung für sein Aussterben zu finden. Auch Entdeckungen im Erdreich schienen immer wieder Antworten zu geben, und so erklärt sich, weshalb das Sagentier auch für Archäolog/innen und Paläontolog/innen von Interesse ist.

Reale und fiktive Ereignisse

Einhörner, Drachen oder Greife gehören für uns in den Bereich der Sagen, Legenden, Märchen. Um zu verstehen, weshalb sich der Glaube an die Existenz des Einhorns von der Antike bis in die Neuzeit gehalten hat, empfiehlt es sich, frühere Ansichten im zeitgeschichtlichen Kontext zu bewerten, nicht aus dem Blickwinkel einer "Moderne, die sich selbst zu einer Siegergeschichte der Gegenwart und ihrer Rationalität erhebt", so der Philologe Bernd Roling.

Welche Bedeutung hatten Mythen für die Menschen in der Antike und im Mittelalter? Mythen sind Erzählungen über reale und fiktive Ereignisse, die ein dichtes Gewebe bilden. Zwar sollen sie auch Spannung erzeugen, nichtsdestotrotz ist das Weltbild, das durch den Mythos Gestalt annimmt, alles andere als eine vom Menschen erfundene Parallelwelt. Vielmehr fließen Erfahrungen ein, die Menschen mit ihrer Umwelt gemacht haben. Im Fall des Einhorns etwa Beobachtungen von Tieren oder auch Funde gigantischer Knochen damals noch unbekannter eiszeitlicher Säuger, die dem Glauben an die Existenz solcher Geschöpfe reichlich Nahrung boten.

Stand das Rhinozeros Modell?

Am Beispiel des Einhorns wird klar, wie sich aus Naturerlebnissen und Knochenfunden ein Knäuel an Erzählungen um das rätselhafte Wesen bilden konnte und weshalb es seinen festen Platz im Tierreich dennoch einbüßen musste.

Eine frühe Spur des Einhorns führt in den Fernen Osten, neben China wird auch insbesondere Indien immer wieder mit der Sagengestalt in Verbindung gebracht. Dies gilt etwa für das Heldenepos Maha bharata (300 v. Chr.), in dem die Legende eines im Wald lebenden Einsiedlers namens Rsyasrnga, "Gazellenhorn", erzählt wird. Solche Erzählungen über Einhörner verbreiteten sich später in Griechenland. Der Arzt und Historiker Ktesias von Knidos berichtet von wilden indischen Eseln mit weißem Körper und purpurrotem Kopf: "Auf der Stirne haben sie ein Horn von der Länge einer Elle."

Vielleicht stand das indische Rhinozeros, dessen Horn man in manchen Regionen noch heute heilende Wirkung zuschreibt, Modell. Und auch römischen Autoren war das Einhorn nicht unbekannt. So erwähnt Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte unter Verweis auf Ktesias einerseits Ochsen mit nur einem Horn, andererseits das Einhorn, "dessen Körperbau dem des Pferdes ähnelt, das aber einen Hirschkopf, Elefantenfüße und einen Eberschwanz hat, stark brüllt und ein schwarzes, zwei Ellen langes Horn auf der Stirn trägt".

Symbol für Allmacht Gottes

Häufig symbolisiert das Einhorn die Allmacht Gottes. Jesus selbst zitiert im Todeskampf am Kreuz aus einem Psalm, in dem es heißt: "Hilf mir aus dem Rachen des Löwen, und errette mich von den Einhörnern!" Angesichts der religiösen Bedeutung und der medizinischen Wirkung, die man dem Horn des sagenhaften Tieres über Jahrhunderte nachsagte, verwundert es nicht, dass Adelige, Alchemist/innen und Apotheker/innen versuchten, in den Besitz eines solchen zu gelangen. Und tatsächlich finden sich in einigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schatzkammern Europas lange weiße Hörner mit spiralförmigen Windungen. Dabei handelt es sich aber um den Stoßzahn aus dem Oberkiefer des Narwals, eines Meeressäugers, den die Inuit in den eisigen Gewässern der Nordmeere jagten. Sowohl literarische Quellen als auch Runen-Inschriften auf solchen Zähnen belegen, dass die wertvolle Substanz nachweislich bereits um 1200 n. Chr. über die Norweger nach Mitteleuropa gelangte.

Mammutvorderläufe & Wollhaarnashornschädel

Eine Entdeckung in den deutschen Mittelgebirgen gab dem Glauben an die Existenz des wundersamen Wesens neuen Auftrieb. Als im Jahr 1663 nahe Quedlinburg "ein fast unversehrtes Skelett eines ungeheuren Tieres", wie es in der Erwähnung heißt, zum Vorschein kam, wurden die Geistesgrößen der damaligen Zeit hellhörig. Späteren Rekonstruktionen, etwa vom Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, ist es zu verdanken, dass heutige Paläontolog/innen genau bestimmen können, von welchen Tieren die gigantischen Knochen tatsächlich stammen. So setzen sich der Torso und die Vorderläufe aus Überresten zweier Mammuts zusammen. Der Schädel des "Quedlinburger Einhorns" weist verblüffende Ähnlichkeit mit Wollhaarnashornschädeln auf.

Die Beurteilung der Einhorn-Frage seit dem Mittelalter kann keinesfalls als linearer Prozess angesehen werden, an dessen Anfang der feste Glaube an die Existenz des Tieres und am Ende die bittere Erkenntnis seiner Nichtexistenz gestanden wäre. Aus der Wechselwirkung von Mythen und Tierknochenfunden ergaben sich immer wieder Schübe und Überraschungen, neue Erwartungen und Ernüchterungen. Daraus können heutige Forscher/innen Schlüsse ziehen.

Textbearbeitung: Peter Waldenberger